Ein paar Schrammen hat er bereits abbekommen, der schwarze Koffer von Johanna Kirschstein. Sie nimmt ihn seit mehr als zwanzig Jahren zu ihren Lesungen mit. Im Lauf der Zeit ist er immer schwerer geworden. Zwanzig Kilogramm bringt er auf die Waage, in seinem Bauch liegen 17 Kinderbücher - von der Autorin aus Reichmannsdorf nahe Saalfeld recherchiert, geschrieben, verlegt.

Mit Schwung hievt sie den Koffer auf einen Stuhl. Ihre 70 Jahre merkt man ihr dabei nicht an. Sie öffnet den Reißverschluss, hebt den Deckel und holt das erste Buch hervor: "So fange ich auch bei meinen Lesungen an", erklärt sie kurz und ist schon mittendrin. Ihre Mundwinkel zucken, die Lachfältchen um Augen und Mund kräuseln sich. Ja, das ist ihre Welt. Mit der Handfläche fährt sie über den Bucheinschlag, als ob sie einen Kinderkopf streichelte.

Und dann geht es auch schon los: "Enteli und Kikerik" - so heißt ihr Erstlingswerk. In einem Urlaub, 16 oder 17 Jahre alt muss sie damals gewesen sein, schrieb sie die Geschichten vom schlauen Hahn und dem dümmlichen Entlein nieder. "Weil mir langweilig war." Später, im Zirkel "Schreibender Arbeiter" der Maxhütte Unterwellenborn, kamen die lehrreichen Abenteuer von "Enteli und Kikerik" so gut an, dass Kollegen das Manuskript an den Kinderbuchverlag Berlin schickten.

Eigenen Verlag gegründet

Johanna Kirschstein fuhr vom beschaulichen Thüringer Wald ins große Berlin - ihr Kinderbuch hatte den Lektoren gefallen, Beachtung gefunden. Doch Tiergeschichten seien genug am Markt, ob sie nicht ein aktuelleres Thema aufnehmen könne, etwas, was in die Zeit passe. Sie packte ihre Geschichten wieder ein und verstaute sie im heimischen Schubfach - mehr als 30 Jahre lang.

Nach der Wende, um genau zu sein 1993, zog sie das Schubfach wieder auf. Und öffnete damit auch ein neues Kapitel in ihrem Leben. Nach einem Ökonomiestudium in der DDR war sie als Hauptbuchhalterin und im Anschluss bis 1994 als Sozialamtsleiterin in Neuhaus am Rennweg tätig gewesen. "Enteli und Kikerik" verkaufte sich mit Erfolg, auch die Fortsetzungen vom Bauernhof kamen beim Publikum gut an. Johanna Kirschsteins drittes Buch "Sagen, Menschen, Reiseziele", entlang der Thüringer Klassikerstraße entwickelte sich zum Renner - bis hin zu einer Empfehlung für den Heimat- und Sachkunde-Unterricht an Grundschulen.

Gleich zu Beginn gründete sie den Verlag "Das liebenswerte Kinderbuch". Auch, weil sie ihre eigene Vorstellung davon hat. "Ich wollte nie Glanzpapier", sagt sie. Ein so einfacher Satz. Und doch drückt er aus, warum sie bis heute die Illustratoren für ihre Bücher selbst aussucht. Sie bestimmt Format, Papier und Einband. Von der ersten Silbe bis zum Verkauf des Buches organisiert sie alles in Eigenregie. "Ein Wagnis unbekannten Ausmaßes", nennt Johanna Kirschstein rückblickend den Neubeginn als Kinderbuchautorin. In ihrer letzten Neuerscheinung "Schlamassel und Schlawiner" erzählt sie wahre Begebenheiten aus dem Tierreich und webt englische Lernwörter in die Geschichten ein. Einen Schreibkurs hat sie nie besucht.

Am Küchentisch in Reichmannsdorf stapeln sich Zeitungsausschnitte, Aktenordner, Karteikarten, Bücher, Notizzettel. Hier sammelt sie jeden interessanten Schnipsel für ihre Bücher. Nur alte Schulhefte und einen Bleistift braucht sie für ihre Manuskripte. Längst im Rentenalter, brütet die Autorin am nächsten Buchprojekt. "Ich möchte Bücher machen, die Kinder und Erwachsene gleichermaßen gern in die Hand nehmen und daraus ein bisschen was lernen." Fast täglich bricht sie zu Lesungen und Buchvorstellungen mit ihrem schwarzen Koffer auf. Lübeck, Kassel, Leipzig, Wiesbaden, dazwischen Nordhausen, Suhl, Sonneberg. Kindergärten, Grundschulen, Lehrerkollegien, Selbsthilfegruppen, Seniorentreffs. Johann Kirschsteins Terminkalender ist prall gefüllt.

Dankesbrief vom Papst

Und warum das alles? Wo sie sich längst zur Ruhe setzen könnte? Wo in Deutschland jährlich mehr als 10 000 Kinderbücher erscheinen, die Geschmäcker so vielfältig sind, die Profite stimmen müssen? Bücher, für die es Kataloge, Messen, den Buchhandel und Marketing im Internet gibt? Johanna Kirschstein zuckt mit den Achseln. Sie hat ihren eigenen Kosmos. "Weil ich es gern mache?" Dann steht sie auf und holt einen Stapel Briefe. Krakelschrift mit Füller, Karo-Papier mit bunten Aufklebern, Kinderzeichnungen mit Widmung, cremeweißes Papier mit Vatikan-Stempel. Ihre Fanpost.

Lukas schreibt, dass er bei einer Lesung in Bad Köstritz dabei war und gern ein Buch bestellen würde. Papst Benedikt XVI. bedankt sich für eine Büchersendung nach Rom zu seinem 80. Geburtstag und wünscht für das künstlerische Wirken "von Herzen Gottes reichen Segen". Eine Buchhändlerin aus dem Ilmkreis bedankt sich für die tolle Lesung. "Gibt es etwas Schöneres als eine Lesenacht mit Kindern, blinkenden Taschenlampen und spannenden Geschichten?", fragt Johanna Kirschstein, den Blick auf einen der Briefe geheftet. Für sie jedenfalls nicht.

Mit einem Ruck steht sie auf und zieht den Reißverschluss des schwarzen Koffers zu. Für heute ist die Erzählstunde vorbei. Das Lesegepäck ist fein säuberlich nach Erscheinungsjahr wieder einsortiert. Verstaut für die nächste Lesung. Der Küchentisch, die Karteikarten und der Bleistift warten schon.

www.kinderbuch-kirschstein.de