Verfolgt man politische Auseinander-Setzungen und Zusammen-Stöße, drängt sich der Verdacht auf, die Aggressivität wächst - im Denken, Fühlen und Handeln. Hass wird offen gezeigt, vor allem in sogenannten sozialen Medien. Die Abladeplätze für Frustrationen quellen über. Hier vereinigen sich durchaus divergierende Botschaften. Eine miese Stimmung schaukelt sich auf. Tenor: Alles wird "immer schlimmer", und daran seien vor allem "die Ausländer" und "die Politiker" schuld. Griffige Parolen, vor allem neonationalistische, stoßen auf komplexe Probleme, polarisieren durch vereinfachen.

Vom Fahrrad werde ich gelegentlich herunter gewunken: "Herr Pfarrer, so geht es nicht weiter. Es wird immer schlimmer. Man muss doch wieder ohne Angst auf die Straße gehen können. Können Sie das nicht organisieren?" Ich frage: Wer was, wann, wo zur Sprache bringen will und mit wem es nicht so weitergeht. Was muss sich konkret wie ändern?" Darauf bekomme ich keine Antwort. Ich solle wieder auf die Straße gehen, die Leute aufrufen, "das System" und die abgehobenen Politiker davonjagen. Wohin? Wer sollte sich mit welcher Legitimation und mit welchen (längerfristigen) Zielen an deren Stelle setzen?

Vielleicht verbirgt sich darunter eine völkische Sehnsucht nach "Führung", gar nach einem Führer? Putinismus, Trumpismus, Orbanismus - jedenfalls Ideologien, die sich an Personen hängen und alsbald anfangen zu "diktieren", des Volkes Stimme zu repräsentieren beanspruchen. Deutschland liegt im Trend, ist aber immer noch von populistischer Herrschaft verschont. Doch die innere Aushöhlung hat längst begonnen. Ist die Gelbwesten-Bewegung in Frankreich wirklich Basis-Demokratie? Spontane Massenbewegungen erhalten durch emotionale Aufheizung und kalkulierte Tabubrüche erhöhte Aufmerksamkeit und münden nach aller historischen Erfahrung in autoritäre Regime. Bewegungen bekommen mit demokratischen Mitteln Mehrheiten. Sie machen sich Frust und Unzufriedenheit zunutze.

Gespenster von einst

Die Gespenster von einst sind wieder da. Die Pest des Nationalismus breitet sich aus, zunächst nur laut-stark. Paradox: Ausgerechnet Nationalisten vereinigen sich. Fast hört es sich an wie ein Schlachtruf: "Nationalisten aller Länder vereinigt euch!" Aber gegen wen und für wen? Nationalismus stilisiert das eigene Volk hoch, wehrt andere ab und meint, sich vor anderen abschotten zu müssen. Das ist die wiederkehrende Logik gegenseitiger politischer und militärischer Aufrüstung - bis hin zur Aufkündigung des INF-Vertrages, der zur Verschrottung der Mittelstreckenraketen geführt hatte. Wäre nicht die Erinnerung an den KSZE-Prozess hilfreich, ja wirklich weiterführend?

Zugleich ist unübersehbar, dass der Frust über (soziale) Ungerechtigkeit und steigende Ungleichheit anwächst. Daimlerchef Dieter Zetsche streicht eine Betriebsrente von über einer Million Euro ein - diverse Nebeneinkünfte nicht eingerechnet. Seine Jahresbezüge 2017 beliefen sich auf 13 Millionen Euro. Ist seine Leistung so viel mehr wert als die Lebensleistung anderer? "Das ist Marktwirtschaft", heißt es. Manchem fehlt es am Nötigsten, andere wissen nicht, wohin mit dem Geld. Die "Systemfrage" wird immer häufiger gestellt: Ist das noch gerecht zu nennen?

Von Skandal zu Skandal

Völkische Gedanken quellen indessen dumpf in die öffentliche Debatte: Was ist juristisch noch legal? Was ist ethisch legitim? Die Differenz wird größer - bis systemrelevant wird, was sich an Widerspruch und Widerstand gegen unser demokratisches System grölend meldet. Die AfD weiß sich Stimmungen, die aus dem Bauch kommen, zunutze zu machen. Und sie weiß in den Migranten die Sündenböcke für unsere Probleme auszumachen. So werden aus Stimmungen Stimmen. Tabubrüche bringen sie offensichtlich unbeschadet weiter. Auch wenn die selbst ernannte "Neue Kraft" AfD von Skandal zu Skandal hüpft, nehmen ihre Zustimmungswerte bei Umfragen nicht ab, sondern eher zu. Wo bleiben öffentliche und persönliche Empörung?

Der Weg der Demokratie ist mühsam, aber Demokratie bedarf überzeugter, einsatzbereiter, um Mehrheiten werbender Demokraten, die sich einmischen. Die französische Schriftstellerin Fred Vargas gibt uns zu bedenken: "Ihr habt sicher bemerkt, dass, sobald etwas hinter uns liegt, sich auch vor uns schon wieder etwas abzeichnet, und immer so weiter. Zerbrecht euch nicht den Kopf darüber, ich sage euch die Antwort, dieses irritierende Phänomen nennt sich das Leben." Wer denkt, es habe alles keinen Zweck, der überlässt denen das Feld, die unser Gemeinwesen nationalistisch- "bauchgesteuert" aushöhlen.