Das Vorwort von Hellmut Seemann weckt die Neugierde des Lesers, lässt den Konflikt ahnen, den der Autor auslöst, wenn nicht gar provoziert. In seiner Vorbemerkung schreibt Paul Kahl von "Kulturdünkel" und "Selbstbetrug", von einem seit 1990 "fortschreitenden Bedeutungsverlust Weimars und seiner Dichterhäuser als Symbolorte". Starker Tobak.

Paul Kahl, ein 40-jähriger Literatur- und Kulturhistoriker am Deutschen Seminar in Göttingen, hat recherchiert und dokumentiert wie kein anderer Wissenschaftler vor ihm, um das Buch "Die Erfindung des Dichterhauses. Das Goethe-Nationalmuseum in Weimar. Eine Kulturgeschichte" vorzulegen. Das ist eine Fleißarbeit, die vor ihm offenbar kein Wissenschaftler in dem Umfang gewagt hat. Ergebnis sind, neben der "Kulturgeschichte", zwei dicke Dokumenten- und Quellenbände, die 2015/2016 erscheinen.

Das 350 Seiten umfassende Buch ist primär eine Zitatensammlung mit Hunderten von Anmerkungen und Kommentaren, einem umfangreichen wissenschaftlichen Apparat im Anhang. Vielleicht sind 100 Seiten von Paul Kahl selbst, inklusive von Wiederholungen. Ein Lesefluss kann nicht entstehen. Schon deshalb ist die Lektüre eine Qual und kein intellektuelles Vergnügen.

Der Autor will den Selbstbetrug, den Mythos des originalen und "ungebrochenen" Goethehauses entlarven, der sich seit 1832 hartnäckig über die Zeiten und gesellschaftlichen Systeme hält. Ausführlich, detailversessen und sich wiederholend referiert Kahl den gescheiterten Plan einer Weimarer "National-Stiftung", die ein Goethe-Nationalmuseum vor 1885 hätte begründen sollen. Seine Ausgangsthese lautet: Goethe wird als Person nach seinem Tod von den politisch Mächtigen und den Nachkommen, später von den Museumsdirektoren, inszeniert und instrumentalisiert. Eine "ersatzreligiöse Verehrung" des Hauses setzt ein.

Das Goethe-Nationalmuseum ist laut Stiftungsbrief von 1885 "eine staatliche, der öffentlichen Benutzung gewidmete Anstalt". Haus und Sammlungen sollen das Andenken Goethes würdigen und der Goethe-Forschung zur Verfügung stehen. Eine "originale" Einrichtung des Wohnhauses und Museums war weder möglich, noch gewollt, auch wenn immer wieder öffentlich vom "Kulturheiligtum" oder "Geist des Hauses" die Rede ist. Die Neueinrichtung 1907/09 kommentiert Museumsdirektor von Oettingen mit dem Ausruf "Goethes Arbeitszimmer! Hier loderte die Götterwonne dichterischen Schaffens." Vergleichbare pathetische Äußerungen finden sich bis ins 21. Jahrhundert immer wieder.

Museumsdirektor Hans Wahl (von 1918 bis 1949) ist eine starke, widersprüchliche Persönlichkeit, dient sich den Mächtigen an. Mit Hitlers Unterstützung wird der Museumsneubau finanziert und 1935 eröffnet. Der Autor dokumentiert akribisch die "unglaubliche Anbiederung an den Nationalsozialismus". Nach 1945 wird diese Gründungsgeschichte "bis in die jüngste Gegenwart verleugnet", schreibt Kahl.

In der Nachkriegs- und DDR-Zeit, unter dem Dach der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur, dienen Museum und Wohnhaus "der Begründung von Herrschaft", lautet Kahls These. Das belegt er mit vielen Zitaten, bemüht gängige Floskeln und Worthülsen aus SED-Dokumenten. Der Dauerausstellung von 1982 bescheinigt er "trotz aller ideologischer Durchdringung" eine anspruchsvolle fachlich-methodische Reflexion. "Die Fachdiskussion erscheint auf der Höhe der Zeit." Jedoch, "die DDR erhebt den Anspruch auf das vermeintlich authentische Goethehaus."

Hellmut Seemann schreibt im Vorwort von einer "Fehlorientierung, nämlich die Verwechslung des Inhalts mit seiner Hülle" nach dem Tod Goethes. Der Präsident der Klassik-Stiftung meint die distanzlose Verehrung Goethes und seines Werkes anstelle der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Paul Kahl hat die Rezeptionsgeschichte des Wohnhauses und Museums im Kontext der lokalen, deutschen und Weltgeschichte im Blick. Person und Werk Goethes treten dabei zurück.

Die Lektüre des Buches ist eine Qual. Die Klassik Stiftung Weimar wird sich weiter quälen müssen, um die Haus- und Museumsgeschichte im Kontext der Person Goethes und seines Werkes zu erforschen und zu vermitteln. Und, ja, auch zu inszenieren.

Paul Kahl: Die Erfindung des Dichterhauses. Das Goethe-Nationalmuseum in Weimar. Eine Kulturgeschichte. Wallstein Verlag Göttingen, 350 Seiten; 29,90 Euro