Die Zeit ist abgelaufen. Das Schrillen des Kurzzeitweckers unterbricht das Kratzen der Stifte auf Papier. Der Zettel wird zum Nachbarn geschoben. Die Uhr läuft wieder. Schnell lesen, was schon geschrieben wurde, sich in die Geschichte einfinden und sie weiterspinnen. Weckerklingeln, weiterreichen. Alljährlich am Wochenende nach Himmelfahrt veranstaltet der Südthüringer Literaturverein in Untermaßfeld seine Schreibwerkstatt. Bereits zum vierten Mal ist eine eigene Jugendgruppe dabei. Die arbeitet nach außergewöhnlichen Ideen. Wie eben jener: Geschichten der anderen Teilnehmer weiter spinnen, und zwar nach dem Takt der Uhr.

Jeder hält am Ende wieder "seinen" Text in den Händen und liest, welche Geschichte die anderen aus seiner Vorgabe gestrickt haben. Sie erzählen von einer Reise nach Afrika, Internetbekanntschaften, einem Professor auf Drogen, der sich in eine Ritter- und Drachenwelt fantasiert, einem Blick in den Spiegel mit der Frage nach dem Sinn des Lebens.

Christian Walther erfindet eine Figur, die in ihrem Alltag gefangen ist, angeödet von der Routine. Der Text wird weitergereicht. Plötzlich taucht eine Frau auf. So mutiert der Text zu einer Liebesgeschichte. "Es ist mal etwas anderes, wenn Texte, die nicht geplant sind, entstehen", sagt er. Dem 19-jährigen Lehramts-Studenten gefallen die Vorgaben für die Aufgaben: Texte anderer Schreiber weiterentwickeln, aus bestimmten Wörtern Geschichten kreieren. "Es ist jedes Mal eine Herausforderung", sagt er. Wenn er daheim schreibt, hat er das nicht. Vor drei Jahren wurde er durch seine Deutschlehrerin, die die Jugendgruppe leitet, auf die Literaturwerkstatt aufmerksam. Mittlerweile studiert er in Jena, trotzdem kommt er nach Untermaßfeld.

Diesmal hat er eine Freundin und Kommilitonin mitgebracht. Franziska Grötsch aus Bad Lobenstein schreibt auch. Doch das Hobby geriet durch Uni und wissenschaftliches Arbeiten etwas ins Stocken. "Es ist eine schöne Abwechslung, ich kann zum Schreiben zurückfinden", sagt die 18-Jährige. Ihre Texte schreibt sie über eigene Erfahrungen: Ihr neuer Alltag als Studentin, Abschied von geliebten Menschen.

Für die Literaturwerkstatt haben sich die Leiterinnen der Jugendgruppe, Ulrike Blechschmidt und Manuela Ploch, Aufgaben überlegt. So können die jungen Autoren mal etwas Neues ausprobieren. Auch wenn sich in die Teilnehmer erst kurz kennen, wird offen über Texte gesprochen, Kritik ist erlaubt. So ändern sich gewohnte Schreib-Muster und Sichtweisen.

In der Jugendgruppe entstehen Kurzgeschichten, Gedichte - Franziska ist begeistert von der Vielfalt. "Man hat ja immer seine Perspektive, aber so kann man auch mal in die Köpfe der anderen blicken", vergleicht sie die unterschiedliche Herangehensweise.

Besonders gefällt ihr die Herta-Müller-Methode. Nach der Arbeitsweise der Literaturnobelpreisträgerin werden Wörter aus Zeitungen ausgeschnitten und zu einem Ganzen zusammengesetzt. "Am Ende lächel' ich über die Welt und klaue die Vorstellung des Lebens in der Zeit gestrandet 2010", heißt es in Franziskas "Zutritt verboten". Diese Technik behagt ihr sehr: "Was dabei rauskommt, hat mich überrascht." Andere basteln Witziges zusammen: "Königsfamilie sucht Grundstück für 50 Cent in Zella-Mehlis und Umgebung."

Auch die Aufgabe "Wörter aus dem Eimer" lässt die jungen Autoren kreativ werden. Hier müssen sie drei vorgegebene Wörter zusammenhängend verarbeiten. Die OzeanZuchtTaste beispielsweise wird zum neuesten Trend, mit dem ein eigenes Meer per Knopfdruck entsteht.

Am Ende des zweiten Werkstatttages wählen die Autoren die besten Texte für die traditionelle Lesung im Meininger Baumbachhaus aus. An den Wänden hängen Schautafeln über die deutschsprachigen Literaturnobelpreisträger. Ein hoher Anspruch.

Die Jungautoren haben ihre Texte in eine literarische Nachrichtensendung verpackt: "Unsere News - Eure News". Christian moderiert. Manche Beiträge bringen die Zuschauer zum Lachen, andere wirken nachdenklich.

Gemeinsam etwas auf die Beine gestellt zu haben, das schweißt die Teilnehmer zusammen. "Es ist nochmal ein Ruck durch die Gruppe gegangen", sagt Manuela Ploch. An manchen Texten kann auch nach der Lesung noch gefeilt werden. Aber gerade das mache den Werkstattcharakter aus, meint Ulrike Blechschmidt. Aber auf jeden Fall haben die Jungautoren gezeigt, dass etwas in ihnen steckt, was nicht jeder auf den ersten Blick vermutet.