Ein Stubenhocker war der französische Adelige Xavier de Maistre (1763-1852) keineswegs. Als junger Mann diente er als Offizier in der Armee des Königreichs Piemont-Sardinien, später in der Armee des russischen Zaren. Er absolvierte sogar eine Fahrt im Heißballon, die mit einem Absturz im Wald endete. Berühmt aber wurde de Maistre durch seinen 1794 erschienenen autobiografischen Roman "Eine Reise um mein Zimmer", der rasch zum Bestseller wurde und das literarische Genre der "Zimmerreisen" begründete. Wegen eines unerlaubten Duells war de Maistre 1790 zu Hausarrest verdonnert worden, den er in seiner kleinen Turiner Dachgeschosswohnung absitzen musste. Was tun, wenn man sechs Wochen lang die Stube nicht verlassen darf?

Heute würde man im Internet surfen, skypen, Fotos auf Facebook posten oder staffelweise Serien gucken. Damals konnte man nur Bücher lesen. Doch de Maistre war kreativ, erkor die eigene Wohnung kurzerhand zum Ort einer Expedition und machte dabei so viele "interessante Beobachtungen", dass er diese unbedingt mit andern Menschen teilen wollte. Sein Roman beschreibt auf vergnügliche Art, was man gemeinhin gar nicht mehr wahrnimmt: die alltäglichsten Dinge.

42 kurze Kapitel umfasst de Maistres Buch, eines für jeden Tag seiner Zwangsisolierung. Und es beweist, dass die abenteuerlichsten Reisen im Kopf stattfinden. Heute ermöglichen es digitale Kartendienste, virtuell den Steinkreis von Stonehenge zu erkunden oder die USA entlang der Route 66. Die Weltreise wird so zum Couch-Vergnügen. De Maistre hatte statt digitaler Helferchen nur seine Fantasie, die den damals 27jährigen, der die Dielenritzen als Breitengrade nahm, vom Bett zum Lehnstuhl und weiter zum Schreibtisch reisen ließ, dicht an der Wand entlang oder im Zickzack. Die Reise führt ihn zu den Büchern auf dem Regal, zum Spiegel und zur Schublade, wo er Briefe aus seiner Jugendzeit findet, aber auch eine verdorrte Rose, trauriges Andenken an eine Frau. Er sinniert über das "nördlich des Sessels" stehende Bett, das Wiege ist, "Thron der Liebe" und Ort des Sterbens; er begegnet Vertrautem, Unvermutetem, er imaginiert Gespräche mit Platon und Perikles, trifft Werthers Lotte. Das Äußerste an Dramatik aber, das der Roman zu bieten hat, sind Schäkereien mit Hündchen Rosine und ein Sturz vom Stuhl.

Jemand, der schon früh lernen musste, Abwechslung, Spaß und Lebensfreude in der Beschränkung zu finden, war der dänische Philosoph Sören Kierkegaard. Dessen Vater war ein streng religiöser und weltabgewandter Mann, der mit dem Knaben auf dem Dachboden auf- und abging, anstatt mit ihm im Freien herumzutollen. So musste sich Sören ganz eigene Vergnügungen schaffen, etwa indem er sich Reime auf die Namen seiner Mitmenschen ausdachte. Wer auf die "exzentrische Zerstreuung" (Kierkegaard) verzichten muss, auf äußere Reize also wie Shopping, Reisen oder wechselnde Beziehungen, der lernt, das Nahe und Vertraute aus neuen Blickwinkeln zu betrachten. Bei de Maistre wird der kleinste Raum und jedes Objekt zu einer Quelle der Reflexion und der Träumerei. Der Reisende, so lernen wir, muss nicht unbedingt in ferne Gefilde vordringen. Dem Neuen, Unerwarteten können wir in unserer nächsten Umgebung genauso gut begegnen wie überall sonst. Und: Jede Reise ist auch eine Reise zu uns selbst. "Wo auch immer du hingehst", sagt Konfuzius, "dort bist du."

Die Coronakrise hat einen dicken Strich durch viele Urlaubspläne gemacht. Mit Ferien unter karibischer Sonne oder am Ballermann wird es diesmal nichts werden. Allenfalls am Müritzsee oder im Chiemgau dürfen wird uns tummeln. Aber schön ist es dort ja auch. Auf dröge Entdeckungsreise im eigenen Wohnzimmer wird keiner gehen müssen. Obwohl: Vielleicht täte es vielen ja ganz gut, statt in die Ferne zu streben und das Leben "mit Betriebsamkeit vollzustopfen", wie die österreichische Schriftstellerin Ilse Aichinger formuliert, einmal ganz entspannt "die Landschaft des eigenen Lebens auf sich zukommen (zu) lassen". In Zeiten von Ausgangssperren und -beschränkungen wird das Buch de Maistres gerade wiederentdeckt. Es könnte für alle, die sich in ihrer Freiheit eingeschränkt fühlen und auf die "Diktatur der Virologen" schimpfen, ein Trostpflaster sein. De Maistre fand während seines Hausarrests übrigens zu der Erkenntnis, dass man Menschen zwar einsperren, aber nicht aller Freiheit berauben könne: "Sie haben mir untersagt, durch eine Stadt zu laufen; aber sie haben mir das ganze Universum überlassen: Die Unermesslichkeit und die Ewigkeiten stehen zu meinen Diensten." Zumindest in der Fantasie.