Auch hierzulande warnten damals viele, die Merkels Entscheidung missbilligten, Deutschland dürfe sich in der Flüchtlingspolitik nicht zum moralischen Zuchtmeister Europas aufschwingen. Wer heute die öffentlichen Debatten verfolgt, könnte meinen, wir seien von Moralaposteln regelrecht umzingelt. Egal, ob Menschen sich für Flüchtlinge oder Klimaschutz engagieren, für Gleichberechtigung, Tierwohl, Veganismus oder eine radikale Verkehrswende - von ihren Kritikern werden sie gern wahlweise als naiv, heuchlerisch, oberlehrerhaft oder fanatisch abgetan, bestenfalls als idealistische, aber weltfremde Träumer, kurz: als Gutmenschen.

Leute, die angeblich ständig die Moralkeule schwingen, um sich selbstherrlich die Deutungshoheit über Sprache, Denken und Verhalten zu verschaffen, hatte schon der Philosoph Friedrich Nietzsche kritisch im Blick. Er hat sie als einen Typus beschrieben, der vollkommen unfähig sei, "zu einer Sache anders zu stehn, als abgründlich-verlogen, unschuldig-verlogen, treuherzig-verlogen, tugendhaft verlogen".

In Studien wurde untersucht, ob Menschen ihre politisch-moralische Korrektheit auch dann zur Schau stellen, wenn sie unbeobachtet sind. In der Tat haben die Probanden die eigene Vorbildlichkeit umso offensiver gezeigt, je mehr Möglichkeiten ihnen dazu gegeben wurden. Daraus lasse sich schließen, so der australische Philosoph Neil Levy, dass die Gelegenheit, sich positiv darzustellen zwar durchaus einer der Gründe sein kann, sich moralisch zu verhalten. Aber dadurch werde dieses Verhalten in der Sache keineswegs diskreditiert. Für religiöse Menschen sei das öffentliche Zelebrieren von Glaubensriten seit jeher ein Weg, den eigenen moralischen Kompass zu zeigen und sich das Vertrauen der anderen Gläubigen zu sichern. Die Zurschaustellung von Tugenden, so Levy, sei eine Kernfunktion moralischer Diskurse. Tue Gutes und rede darüber, heißt es. Was sollte falsch daran sein?

Unter einem argumentum ad hominem versteht man den Versuch, eine Position oder These anzufechten, indem man die Glaubwürdigkeit oder die intellektuelle Reife und Redlichkeit des Streitgegners in Zweifel zieht. Es ist ein Scheinargument, weil es ablenkt von der eigentlichen Problematik, es ist ein Griff in die rhetorische Trickkiste, um einer Sachdiskussion auszuweichen. Die Klage etwa über die extreme soziale Ungleichheit in der Gesellschaft wird so kurzerhand als Neiddiskussion jener verunglimpft, die nichts zustande gebracht haben. Und die Warner vor der Klimakrise werden als Untergangspropheten verspottet. Die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg beruft sich stets auf wissenschaftliche Forschung. Ihre Kritiker aber thematisieren ihr Asperger-Syndrom, ihre Jugend, ihre Unerfahrenheit, ihren kompromisslosen Ton, sie unterstellen ihr, sich als Jeanne d’Arc der Klimakrise zu inszenieren oder inszenieren zu lassen. So ersparen sie sich, auf der Sachebene zu diskutieren, wohl wissend, dass sich die eindringlichen Warnungen fast aller seriösen Klimaexperten nur schwer erschüttern lassen.

Das Wort Gutmensch kam in den 1990er Jahren auf; heute hat es wieder Konjunktur - als Kampfbegriff gegen jene, die sich für Flüchtlinge oder Klimaschutz engagieren. Der britische Autor James Bartholomew behauptet: Das Gutmenschentum sei von Eitelkeit getrieben, nicht von der Sorge um andere. "Tugendprotzerei" sei bequem, meint er, denn man könne für Arme sein, ohne etwas für Arme zu tun, man könne gegen Rassismus sein, ohne etwas für Flüchtlinge zu tun. Klar, es gibt Heuchler, die nur das Ziel verfolgen, sich selber im besten Licht darzustellen. Aber kann man das generalisieren?

Zugegeben, auch wer Gutes tut, tut es oft nicht ganz selbstlos, nicht ohne Hintergedanken und Eigeninteresse. Wer Flüchtlinge auf Bahnhöfen willkommen heißt, wer sich vegan ernährt oder mit dem Fahrrad zur Arbeit fährt, ja, der tut das vielleicht auch, um die eigene Vorbildlichkeit hervorzukehren. Aber wird richtiges Tun moralisch fragwürdig, weil ihm womöglich ein Gran Selbstgefälligkeit beigemischt ist? Die Beweggründe menschlichen Handelns sind häufig vielschichtig, selten lupenrein moralisch. Eine Umfrage zur Flugscham im letzten Sommer ist dafür ein Beispiel. Sie ergab, dass Bürger, die grün wählen, besonders häufig den Flieger nutzen. Alles Heuchler? Na ja, immerhin haben die meisten ein schlechtes Gewissen dabei.