Wenn sich Landolf Scherzer auf den Weg macht, läuft er ins Abenteuer. Knapp fünf Wochen wanderte er entlang der Grenzen zwischen Ungarn, Kroatien, Serbien und Rumänien. Aus zahllosen Begegnungen entstand nun das Buch "Immer geradeaus".

Herr Scherzer, das Interesse an Ihrer neuen Reportage ist schon jetzt groß. Ist ein erfolgreicher Schriftsteller wie Sie aufgeregt, oder ist das alles schon Routine?

Aufgeregt bin ich, wie die Leser das Buch aufnehmen. Ich traue meinen Produkten nicht immer richtig. Aber wenn man sie weg gibt, muss man mit dem Urteil der Leser leben. Bei der Buchmesse und davor bei "Riverboat" im MDR gibt es sogar Fernsehtermine. Doch der direkte Kontakt zu den Lesern bedeutet mir mehr als solche Shows. Ich sehe selten Fernsehen und weiß nicht genau, wie man sich dort bewegt. Ich glaube, man muss sehr schlagfertig sein, sich produzieren. Ich weiß nicht, ob mir das so sehr liegt. Ich bin eigentlich lieber mit den Lesern alleine. . .

Haben Sie Angst vor einem eventuellen Verriss?

Meine Lebensauffassung ist: Wenn ich zu einem Zug renne, sage ich mir gleichzeitig: Den kriegst du ja sowieso nicht. Aber ich renne. Und wenn ich ihn kriege, habe ich einen Grund, mich zu freuen. Das ist so ähnlich mit den Büchern. Ich habe eher eine negative Erwartungshaltung. Obwohl ich insgeheim natürlich hoffe, dass es gut wird. Wenn man aber absolut von sich überzeugt ist, und einen Verriss für unmöglich hält, muss man sich einen Schutzmantel der Überheblichkeit zulegen.

Warum haben Sie sich für Ihr neues Buch ausgerechnet in Südosteuropa umgetan?

Es gibt oft ein Klischeedenken. Wie jetzt bei der Schweiz: Die verstecken da nur unsere Steuern! Bei der Schweiz werden diese Klischees aber noch aus Erfahrungen relativiert. Von Osteuropa bleiben meist nur die Klischees. Es gibt kaum Allgemeinwissen, wie die Leute dort wirklich leben. Wenn was berichtet wird, dann geht es um Extreme, wie die schrecklichen Zustände in den rumänischen Waisenhäusern. Deshalb Osteuropa. Ich wollte mehr erfahren, als die verbreiteten Klischees. Die Reise sollte mit dem Traktor noch viel weiter führen, das hatte nicht geklappt.

Nachdem Ihr Reisebegleiter mit dem Traktor umgedreht war, haben Sie sich einfach zu Fuß auf den Weg gemacht und waren dann vier bis sechs Wochen unterwegs. . .

Fünf Wochen.

Was konnten Sie in dieser Zeit über das Leben der Menschen und über die politischen Probleme erfahren?

Kaum etwas. Man kann als Außenstehender nur beobachten. Und das Beobachtete aufschreiben. Wie du aufgenommen wirst, mit Rucksack, vergammelt und müde. Wie die Leute auf dich Fremden reagieren. Von den politischen Dingen bekommt man wenig mit. Stellen Sie sich einen Touristen vor, der kaum Deutsch spricht und nach Köln kommt, nicht in die Innenstadt, sondern in die weniger feinen Gegenden. Dass es in der Stadt vielleicht einen politischen Streit darüber gibt, ob irgendein neues Kaufhaus die Sicht zum Dom versperren würde, das merkt er natürlich nicht.

Es gibt auch ein Klischee von Osteuropa, dass Fremde dort immer gastfreundlich aufgenommen werden.

Ich war auch in Dörfern, in denen ich keinen Schlafplatz gefunden habe und in Getreidelagern, Weinkellern und Kirchen nächtigte. Aber um nur ein Beispiel zu nennen: Da war in Kroatien eine Familie, die hatten eine kleine Pension, die haben mir einfach ihre Wohnung überlassen. Ohne nach meinem Pass zu fragen. Ich denke, dass auch ich gastfreundlich bin. Aber wenn ich mir vorstelle: Es kommt ein unbekannter Kroate vorbei, fragt mich in gebrochenem Deutsch, ob er bei mir schlafen kann, ich gebe ihm die Schlüssel und sage, wenn er geht, soll er sie in den Briefkasten werfen - ich wüsste nicht, ob ich das kann. Und ich habe nirgendwo übernachtet, ohne dass man mir zu Essen und zu Trinken gab.

Hat es Sie nicht Überwindung gekostet, wildfremde Menschen nach einem Schlafplatz zu fragen?

Doch, sehr viel. Das hat mich am Ende auch davon abgehalten, noch weiter zu laufen. Körperlich war ich noch fit. Aber das Fragen, das war schwieriger als das Laufen.

Welche Begebenheit ist Ihnen besonders intensiv im Gedächtnis geblieben?

Da gibt es einige. Zum Beispiel: Eine Familie in Kroatien. Sie wohnten etwas außerhalb. Jeder hatte auch mal eine Zeit lang in Deutschland gearbeitet. Mann, Frau, Bruder - jedem fehlten Zähne, denn Geld für Behandlungen hatten sie keins. Nach dem Essen wurde das Zimmer abgedunkelt. Und der Mann fragte, was für ein Auto er nehmen soll: Ferrari, Mercedes. Im Zimmer stand so ein alter, selbst gezimmerter Tisch, darauf ein Lenkrad. Dann fuhr der Mann, der war so vierzig, er fuhr Autorennen. Monza.

Ein Videospiel?

Sonst hatten die nichts. Aber alle drei, vier Tage holte er das Videospiel heraus und fuhr seine Rennen. Und gewann! Er war Formel 1-Weltmeister! Die Familie saß um ihn herum und staunte und alle waren glücklich. Man muss das Foto sehen. . . Ein ärmeres Schwein habe ich selten getroffen. Eine andere Geschichte: In Serbien. Es regnete furchtbar. Ich bat vor einem Haus um eine Unterstellmöglichkeit. Eine Frau holte ihren Mann. Der Mann wollte wissen, wo ich herkam. Deutschland, sagte ich. Er spuckte aus, zeigte zum Himmel. Ich sagte: "Ja, es regnet". Er schüttelte den Kopf. Bomben, sagte er, Bomben. Und ließ mich nicht in das Haus. Später kam die Frau noch einmal heraus: "Sie müssen ihn verstehen", sagte sie. "Unser Sohn ist im Krieg umgekommen."

Haben Sie bei dieser Reise etwas über sich selbst gelernt?

Eine neue Bescheidenheit, dass man damit zufrieden sein kann, ohne es als Beschränkung zu empfinden. Ich habe mich die ganze Zeit fast nur von Speck, Weißbrot, Paprika und Tomaten ernährt. Mal ein Stück Käse, mal ein Schluck Wein. Ohne dieses Gourmet-Gehabe. Und es hat mir nichts gefehlt. Seitdem hängt bei mir in der Küche wieder ein Stück Speck. "Speck ist Leben", hat ein Serbe gesagt. Nicht aus Genügsamkeit. Sondern als Lebensgenuss. Was dort aber vielleicht auch nicht mehr lang verbreitet sein wird. Aldi, Lidl und so weiter gibt es dort schon überall. Ich habe, was das Essen betrifft, bei meiner Wanderung meine Kindheit und Jugend noch einmal gelebt.

Der Vergleich zu unserer heutigen Art zu Leben drängt sich da scheinbar auf.

Ich habe es aber nicht so konzipiert. Ich habe das Leben nur beschrieben. Rückschlüsse sollte der Leser ziehen, sich Gedanken machen über unser Tun hier und heute.

Interview: Frank Hommel

Die Premiere des Buchs "Immer geradeaus" von Landolf Scherzer findet am 16. März um 19.30 Uhr im Buchhaus Suhl statt. Weitere Lesungen in der Region sind geplant - am 23. März in Bad Salzungen, am 24. März in Schmalkalden und am 25. März in Neuhaus/Rwg.