Nahezu 30 Jahre ist es her, dass ich den Schriftsteller Siegfried Pitschmann kennenlernte. Wir hatten in Weimar die Literarische Gesellschaft gegründet, da tauchte er unerwartet auf. Ich kannte ihn nicht persönlich, allerdings einige wenige kurze Texte, die sich mir ihrer handwerklichen Meisterschaft wegen eingeprägt hatten. Man hatte mir auch erzählt, dass Pitschmann sich offenbar verkrieche, jedenfalls wisse man nicht so genau, wo er eigentlich stecke. Irgendwann gabelte Matthias Biskupek ihn dann in dessen Suhler Stammkneipe auf.

Von nun an gehörte Pitschmann dazu, reiste zu jeder Vorstandssitzung nach Weimar an. Schnell kamen wir ins Gespräch, das bis zu seinem Tod nicht mehr abbrach. Im kleinen Kreis blühte er auf, wurde er zum begnadeten Erzähler, der sich aber auch voller Interesse anderen Menschen zuwenden konnte. Schnell entstand eine außergewöhnlich belebende Freundschaft zwischen uns. Zu Zeiten der DDR allerdings hätten wir uns schwerlich getroffen, denn wir lebten in völlig verschiedenen Kreisen: Pitschmann inmitten seiner Schriftstellerkollegen und Lektoren, bekannt mit Bildenden Künstlern und Theaterleuten, oft bedrängt von Kulturfunktionären. Ich als Theologin in der Protestantischen Kirche mit ihren oppositionellen Gruppen. Immer, wenn wir uns von nun an trafen, stürzten wir uns halbe oder ganze Nächte in Gespräche. Siegfried war ein faszinierender Erzähler, der Geschichten und Anekdoten aus seinem Leben amüsant, selbstironisch und ehrlich in schillernden Facetten zu Gehör bringen konnte. Er kannte sich aus in den Abgründen und Grotesken des Lebens und schonte sich selbst dabei keineswegs.

Mit reiner Willenskraft

Du solltest das alles aufschreiben, bat ich ihn immer wieder. Er stimmte mir zu, aber wir wussten beide, dass nichts daraus werden würde, denn seine Zweifel und Skrupel vor dem Wort hatten sich mit den Jahren zu einer Schreibhemmung verdichtet, deren letzte Hintergründe ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht kannte. Dazu kamen Ansprüche an die eigene handwerkliche Kunst, die immer schwerer einzulösen waren. Und es gab noch etwas, das ich unterschätzte: Gesundheitlich ging es ihm nicht gut. Die Alkoholabhängigkeit hatte er freilich Jahrzehnte zuvor mit reiner Willenskraft überwunden - von heute auf morgen trank er nur noch Kaffee oder Kirschsaft und sah gelassen zu, wie andere dem Wein zusprachen. Aber von den Zigaretten kam er nicht los. Mehrfach lag er wochenlang in der Klinik in Bad Berka, immer wieder zog man ihm neue Gefäße ein. Aber mit dem Laufen wollte es nicht mehr klappen. Seine Kräfte ließen nach. Allerdings sprach er kaum je über seine Schmerzen und beklagte sich nie.

Es muss im Frühjahr 2000 gewesen sein, als ich ihm den Vorschlag machte, mir sein Leben auf Band zu erzählen. Zuerst zögerte er, dass stimmte er nachdrücklich zu. Im Oktober war es soweit. Er kam für eine Woche zu uns nach Weimar. Hoch konzentriert saß er schon morgens in Schlips und Kragen und außerordentlich früh für seine Verhältnisse bereit. Bevor er begann, wollte er jedoch noch eine Angelegenheit klären. Zu meiner Überraschung fragte er mich, ob ich ihn wohl, wenn es soweit wäre, beerdigen könne. Ich antwortete: Ja, na klar, mach dir darüber keine Sorgen. Aber jetzt lass uns über das Leben reden und nicht über den Tod!

Lebenslange Narben

Der heitere, anekdotische Ton wollte sich freilich nicht mehr einstellen. Es lag ihm nun daran, Bilanz zu ziehen, und zwar mit dem Anspruch radikaler Wahrhaftigkeit. Mein Leben, so lautete sein erster Satz, ist eine Kette von Verlusten gewesen. Diesen Satz muss er sich zuvor genau überlegt haben. Ich war erschrocken, denn sein Leben erschien mir reich und keineswegs gescheitert zu sein. Dann begann er zu erzählen. Später habe ich seine Lebenserinnerungen deswegen "Verlustanzeige" genannt.

Nach und nach entstand vor meinem geistigen Auge das Bild eines Menschen, der, sensibel und hochbegabt, von Kindesbeinen an Verletzungen und Entmutigungen erfuhr, die ihm lebenslang als innere Narben blieben. Geboren in Grünberg (Zielona Gora), Schlesien, litt er unter seinem dominanten Vater, der den Sohn zwar gegen die Nazi-Ideologie immunisierte, aber andererseits in eine autoritäre Sekte verstrickt war, in die er das Kind hineinzog. Die kinderreiche Familie floh 1945 mit dem Halbwüchsigen nach Mühlhausen in Thüringen und versuchte, in Not und Armut Wurzeln zu schlagen. Hier begann Pitschmann zu schreiben. So bemühte er sich schreibend, die Erfahrungen von Krieg, Nachkrieg und Gründung der DDR zu bewältigen. Noch flossen ihm die Worte zu, erlebte er das Schreiben als reines Glück. Früh schloss er eine erste Ehe und versuchte, sich unter den finanziellen Fittichen seiner Frau als Schriftsteller zu beweisen. Bald schon kämpfte er mit jedem Wort. Oft unterlag er, und das Papier blieb unbeschrieben, der Text unvollendet.

Er konnte tagelang an einem Satz basteln, Texte wieder und wieder überarbeiten. Legendär die Anekdoten, die gequälte Lektoren überlieferten. Etwa: Pitschmann habe, nachdem der Abgabetermin beträchtlich überschritten war, ein Telegramm geschickt, des Inhalts, nach langem, inneren Kampf sehe er sich gezwungen, ein Komma neu zu setzen. Tage oder Wochen später habe der Autor telegrafisch mitgeteilt, das Komma solle wieder gestrichen werden.

So entstand unter Qualen eine dichte, makellose Prosa, die ihresgleichen sucht. Allerdings blieb es bei einem schmalen Werk. Im Leben und Schreiben kultivierte Pitschmann eine Haltung des Abwartens, des Abstandhaltens und der Selbstzweifel. Er entwickelte einen Hang zum Ausweichen, auch zur Nachgiebigkeit, und gelangte so zu einer Überzeugung, die ihm das Abseits als den sichersten Ort erschienen ließ.

Unterbundener Roman

Seine Lebensorte lagen in der Provinz, sie hießen Mühlhausen (wo er auch beerdigt ist), Hoyerswerda, Rostock und zuletzt Suhl. Das Abstandhalten ermöglichte ihm, ein unbestechlicher und genauer Beobachter nicht nur seiner selbst, sondern auch der Personen zu sein, die die wechselnden kulturpolitischen Machtverhältnisse in der DDR prägten. Die frühe stalinistische DDR mit ihren Grenzen und Zwängen untergrub das schon in der Kindheit erschütterte Vertrauen in die eigene Wirkmächtigkeit noch mehr. Dass die zuständigen Genossen des Schriftstellerverbandes (zu denen, wie wir erst heute wissen, auch Erwin Strittmatter gehörte) seinen entstehenden Roman "Erziehung eines Helden" unterbanden, erschütterte ihn bis zum Suizidversuch. Andererseits beflügelte ihn seine Begeisterung für den Sozialismus, den er in der DDR bei allen Irritationen auf dem Wege sah.

Der stetig wachsende Graben zwischen seinen Idealen und der Realität lähmte den noblen Erzähler, dem es nicht gegeben war, sich geschmeidig Vorteile zu verschaffen und die Wirklichkeit schön zu reden. Pitschmann war im Grunde seines Herzens kein politischer Mensch, sondern ein hochdifferenzierter Feingeist, der sich auf der Geige, auf dem Klavier, ja sogar beim Orgelspiel erholte. Andererseits aber hat es ihm gerade die DDR ermöglicht, als Schriftsteller überhaupt eine dauernde, wenn auch bescheidene Existenzgrundlage zu finden, in der er der Sorge um die Vermarktung seiner Bücher enthoben war. Sein Lektor Günther Caspar hielt unerschütterlich an ihm fest, immer wieder erhielt er Stipendien zudem Aufenthalte in dem berühmten Schriftstellerheim Petzow, wo er im Frühjahr 1958 Brigitte Reimann traf. Zwischen den beiden entstand eine große Liebe und eine literarische Produktionsgemeinschaft, von denen Reimanns Tagebücher und der umfangreiche Briefwechsel zwischen beiden berührende Auskunft geben.

Die Jahre des Aufbruchs in Hoyerswerda mit ihren ganz eigenständigen Schritten auf dem "Bitterfelder Weg" waren für Siegfried Pitschmann im Rückblick die schönste, die erfüllteste, die produktivste Zeit seines Lebens. Brigitte Reimann, ihre Lebenslust und Kreativität waren für ihn Herausforderung und Antrieb. Nur sechs Jahre bestand diese ungewöhnliche Schriftstellerehe, aber die Erfahrungen wirkten in beiden fort. Nach ihrem frühen Tod stellte er sich bewusst in den Dienst ihres Gedächtnisses und ihres Nachlasses. Er hat sich dabei bis zur Selbstverleugnung zurück genommen. Für Reimanns Literatur und Nachwirkung ist Siegfried Pitschmann ein Glück gewesen.

Nach der Scheidung zog Pitschmann nach Rostock, ging eine neue Ehe ein und war eine Zeit lang unter einem berühmt-berüchtigtem Theaterfürsten am Volkstheater in Rostock tätig. Auch der sich allmählich abzeichnende Umsturz in der DDR sah ihn als abwartenden und fragenden Beobachter, jedoch in einem fortwährenden Gespräch mit jungen Leuten begriffen. Die Ereignisse im Herbst 1989 warfen Fragen auf, deren Durchdringung nach Rückzug verlangte. Wieder ließ Pitschmann alles hinter sich und richtete seine Blicke auf Suhl. Dort lebte Landolf Scherzer, der sich um eine Bleibe für Pitschmann kümmerte. So kehrte er in sein geliebtes Thüringen zurück. Zwölf Jahre lebte er bis zu seinem Tod in Suhl, auch hier umgeben von jungen Leuten, die ihm begeistert zuhörten und ihm die Sicht einer nachfolgenden Generation vermittelten. Im August 2002 starb Siegfried Pitschmann in Suhl, jedoch nicht in der Klinik, sondern in den Armen eines Freundes, der den Todkranken noch einmal zu sich geholt hatte.

Voller Brüche

Stellt sich die Frage, was von Pitschmann bleiben wird, über die persönlichen Erinnerungen seiner Familie, seiner Freunde und Weggefährten hinaus, die natürlich kostbar sind. Als Autor und als Mensch hielt Pitschmann sich für gescheitert. Verlust und Versagen waren Bewertungen, die ihm in den letzten Jahren geeignet erschienen, sein Leben und Werk zu deuten. Aber diese Erfahrungen voller Brüche, Kämpfe, Begeisterung, Resignation und Aufbäumen gehörten dazu - für Pitschmann wie für viele Autorinnen und Autoren in der DDR, deren Stimmen von bleibender Bedeutung sind. So stellen wir heute mit einigem Abstand fest, dass in diesem untergegangenen Ländchen namens DDR etwas überaus Bedeutungsvolles gedieh. Diese Erkenntnis jedenfalls drängt sich mir auf, wenn ich mir noch einmal die Heftigkeit vor Augen führe, mit der wichtige Schriftsteller literarisch und persönlich mit sich und mit der Macht rangen - und so bedeutsame Muster der Lebensbewältigung schufen. Im Rückblick kann es gut sein, dass Siegfried Pitschmanns schmalem Werk ein literarischer Nachhall beschieden ist.