Geschichten, die auf der Straße liegen, hat Anne Gallinat in ihrem neuen Roman verarbeitet. Herausgekommen ist "Hannes' Bistro", ein Zweihundertseiter im Taschenbuchformat, der punktgenau zur diesjährigen Leipziger Buchmesse beim Rudolstädter Greifenverlag das Licht des deutschen Bücheruniversums erblickt hatte - und zwar im Digitaldruckverfahren ohne feste Auflage. Aber mit Nachproduktionsgarantie binnen drei Tagen.

"Ich habe ein bisschen geschwitzt, ob das Buch noch fertig wird. Und ich habe es das erste Mal zur Messe gesehen, also am Stand des Verlags frisch abgeholt", sagte die Vorsitzende des Verbandes deutscher Schriftsteller in Thüringen vor ihrer Lesung in der Suhler Rimbachbuchhandlung im Rahmen der "Lesereihe 2010" des Südthüringer Literaturvereins.

Ihre Messe-Lesung hatte sie deshalb noch aus ihrem Manuskript bestritten. Dieser Zustand war am Mittwoch überwunden. Ordnungsgemäß reihten sich ihr Vorleseexemplar mit Lesezeichen samt dem obligatorischen Wasserglas und Verkaufsbänden auf ihrem Vorleserinnentischchen auf. Dahinter die Autorin, Jahrgang 1965, geboren in Potsdam-Babelsberg, wo sie ihr Studium der Filmwissenschaften und der Dramaturgie absolviert hatte. Eigentlich war ihr Ziel von vornherein die Arbeit mit und an der Literatur gewesen. Abgehalten hatte sie die politische Infiltration des DDR-Germanistikstudiums.

Für ihre Milieustudie, an der sie drei Jahre geschrieben hat, war sie in ihrem Wohnort Saalfeld zuerst einmal auf Feldforschung gegangen. Nicht alle der Wohnsitzlosen, die sie beobachtet hat oder mit denen sie ins Gespräch gekommen ist, wissen, dass sie literarische Muse geworden sind. "Einer lebt gar nicht mehr. Der wirkliche Doktor ist im Winter vor drei Jahren in seiner Wohnung erfroren, da war ich sehr erschüttert", sagt die Autorin, die "Hannes' Bistro" als einen Gegenentwurf zu ihrem ersten, Metapher gesättigten 2004er-Roman "Der blutrote Ahornbaum", den sie rückblickend als elitär empfindet, verstanden wissen will.

Herausgekommen ist eine Geschichte, welche die Balance zwischen Schicksal, Schuld und Unschuld halten will und welche den Blick gezielt auf die "Bierbüchsen-Leute" lenkt, die sich in Hannes' Spelunke treffen. Denen hat sie - "weil einfache Menschen Mundart sprechen" - einen Fantasie-Dialekt in den Mund gelegt, der an das Thüringische erinnern soll.

Ob das beim Lesen jedermanns Sache ist, bleibt offen. Sicher ist, dass die Nöte und der Alltagstrott des fahrradverliebten Ex-Chirurgen oder der kirchenchorgefestigten Bärbel nebst ihrer Gefährten zwischen zusammenramschendem Einkaufsverhalten, Liebesmüh' und diakonischem Duschvergnügen tiefe Einblicke in die Randzonen der Gesellschaft nach dem Mauerfall bieten.

Eine schnörkellose Sprache in pädagogischer Einfachheit macht den Roman für Erwachsene prinzipiell auch für den Mittelstufen-Schulunterricht geeignet. Vielleicht haben da ihre vorangegangenen Werke, die beiden Kinderbücher "Straßenhändler" und "Märchenzauber für die Grundschule", stilistisch ein bisschen zu sehr durchgeschlagen.

Neue Pläne, verrät Gallinat, hat sie zuhauf: Darunter eine moderne Version von Ivan Goncharovs berühmter Oblomov-Novelle von 1859, für deren Realisation sie ein Stipendium beantragt hat.