Feuilleton Ein Sieg mit schwerer Hypothek

Klaus Grimberg
Ein vierseitig beschriebener Denkmalsockel mit dem preußischen Adler und der Inschrift "Ihren Helden zur dankbaren Erinnerung gewidmet von den Kameraden und Einwohnern Benshausens 1872" erinnert an die im Deutsch-Französischen Krieg von 1870 bis 1871 getöteten Soldaten des Ortes. Foto: ari

Vor 150 Jahren, am 19. Juli 1870, begann der Deutsch-Französische Krieg. Militärisch war er rasch entschieden, in den Gemütern beider Nationen aber wirkte er lange nach.

 
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Die Geschichte des Deutsch-Französischen Krieges wird aus der deutschen Perspektive meist von ihrem Ende her erzählt: Denn mit der Proklamation des deutschen Kaisers Wilhelm I. im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles am 18. Januar 1871 wurden die Einzelstaaten auf deutschem Boden endgültig im Deutschen Reich vereint. Lange nach England oder Frankreich war damit auch in Deutschland der Prozess einer Nationalstaatsbildung abgeschlossen.

Unter Historikern wird der Krieg von 1870/71 deshalb als Schlusspunkt der Einigungskriege ab den frühen 1860er-Jahren gesehen. Mit dem Dänischen Krieg von 1864 und dem Deutschen Krieg zwischen Preußen und Österreich 1866 hatte Preußens Ministerpräsident Otto von Bismarck den Zusammenschluss deutscher Kleinstaaten bereits weit vorangetrieben. In der patriotischen Euphorie des Sieges über Frankreich waren nun auch die süddeutschen Staaten bereit, in ein Deutsches Reich einzutreten.

Der militärische Verlauf des Krieges ist mit dem Abstand von 150 Jahren hingegen weitgehend in Vergessenheit geraten. Was auch damit zu tun hat, dass der "Waffengang" der beiden Staaten nach wenigen Wochen eigentlich schon entschieden war. Von der vernichtenden Niederlage in der Schlacht bei Sedan am 1./2. September 1870 konnte sich das französische Heer in den folgenden Monaten nie mehr erholen.

"Sedantag" als Feiertag

Kaiser Napoleon III. geriet in deutsche Gefangenschaft, und in Paris wurde die Republik ausgerufen. Mit dem Vormarsch auf die französische Hauptstadt und deren Einkreisung am 19. September 1870 zeichnete sich der deutsche Sieg immer deutlicher ab.

Im Deutschen Kaiserreich sollte später der "Sedantag" zum inoffiziellen Nationalfeiertag werden, an dem alljährlich an den militärischen Sieg und die deutsche Einigung erinnert wurde. In vielen Städten des Reiches wurden an diesem Tag Siegesdenkmäler enthüllt. Das bekannteste von ihnen ist die 1873 eingeweihte Siegessäule in Berlin, in der im Krieg erbeutete französische Kanonenrohre verbaut wurden.

Der Mythos vom raschen Sieg über die deutlich unterlegenen Franzosen sollte sich durch die lange Ära des Friedens nach 1871 erhalten. Er spukte noch in den Köpfen einer neuen Generation von Soldaten, die im August 1914 übermütig und siegesgewiss in den Ersten Weltkrieg zogen. "Ausflug nach Paris" oder "Auf Wiedersehen auf dem Boulevard" stand auf den Türen der Truppenwaggons, mit dem die Rekruten gen Westen transportiert wurden.

Die fatale Überheblichkeit, genährt durch die verklärten Erinnerungen an 1870/71, sollte in den Schützengräben von Verdun und anderen Orten enden. Die jungen Männer, die dann über Monate und Jahre auf den Schlachtfeldern geopfert wurden, erfuhren sehr rasch am eigenen Leibe, dass die Rhetorik vom militärischen Spaziergang eine Lüge war. Im Übrigen galt das schon für den Feldzug von 1870/71: Auf deutscher Seite bezahlten rund 45 000 Soldaten den Sieg mit ihrem Leben, fast 90 000 wurden verwundet. Die Franzosen verloren sogar 140 000 Mann, ähnlich viele trugen Verwundungen davon.

Die schlimmsten Verletzungen aber richteten die Deutschen mit der Annexion des Elsass und eines Großteils von Lothringen an, die als "Reichsland" ins Deutsche Reich eingegliedert wurden. Auch die für damalige Verhältnisse ungeheuer hohe Reparationssumme von fünf Milliarden Francs, die Frankreich im Frieden von Frankfurt vom 10. Mai 1871 aufgebürdet wurde, nahmen die Franzosen als erdrückende Last wahr. Vor allem aber empfanden sie die Kaiserproklamation im Versailler Schloss als schlimme Demütigung ihres nationalen Stolzes.

Auch in dieser Hinsicht wirkte der Krieg von 1870/71 bis weit ins 20. Jahrhundert nach: Die drakonischen Bestimmungen des Versailler Friedensvertrags von 1919, die die junge Weimarer Republik schwer belasten sollten, beruhten zu einem nicht geringen Teil auf den Erfahrungen des deutsch-französischen Krieges ein halbes Jahrhundert zuvor, die in Frankreich nie vergessen und vergeben worden waren.

Ursache im Unklaren

So sehr sich die Folgen dieses Krieges in das historische Gedächtnis der Deutschen eingegraben haben, so sehr liegen seine Ursachen im Unklaren. Aus heutiger Sicht wirken die diplomatischen Winkelzüge, die in die militärische Auseinandersetzung mündeten, nur noch schwer nachvollziehbar.

Vordergründig ging es um die Kandidatur des deutschen Prinzen Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen um den vakanten spanischen Königsthron. Der entfernte Verwandte des preußischen Königs Wilhelm I. konnte nur mit dessen Zustimmung die Königswürde annehmen, was in Frankreich die Angst vor einer preußisch-deutschen Umklammerung weckte und entsprechend nationale Entrüstung hervorrief.

Bis heute bleibt umstritten, ob eher Bismarck auf der einen oder die französische Regierung um Napoleon III. auf der anderen Seite diese angespannte Situation absichtlich weiter zuspitzte, sodass ein Krieg nach den Auffassungen der Zeit letztlich unvermeidbar war. Frankreich hoffte, so aus seiner außenpolitischen Isolation ausbrechen zu können. Und Bismarck strebte an, die letzten Zweifel an einer Reichsgründung durch den entfachten Patriotismus auszuräumen.

Unter den Zeitgenossen bestand am Ende des Kriegs kein Zweifel daran, dass Bismarck mit seiner Strategie triumphiert hatte. In der historischen Rückschau aber wird deutlich, dass die Reichsgründung im Moment des militärischen Sieges mit einer langfristigen Hypothek verbunden war, die Deutschland noch ein halbes Jahrhundert später schwer belasten sollte.

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