Stellt man dem Schriftsteller Volker Braun eine Frage, braucht es oft einen Moment, bis die Antwort kommt. Der poetische Wortakrobat wägt genau ab zwischen Begriffen, Sätzen, Metaphern. Es scheint, als erleide er Geburtswehen, bis er Wörter aus der geschützten Aura seiner Gedankenwelt freigibt und sie der Verletzbarkeit der Wirklichkeit aussetzt.

Bei einer Frage am Samstagabend aber zögerte Volker Braun nicht den Bruchteil einer Sekunde. Es war die Frage, ob sich das Suhler Literaturfestival „Provinzschrei“ auch unter Schriftstellerkollegen herumspricht. „Aber natürlich“, sagte Braun entschieden und hob den Zeigefinger: „Diesen Schrei vernimmt man schon.“

In der Tat: Schon vor dem von unserer Zeitung präsentierten Schlusspunkt mit der Schauspielerin Marianne Sägebrecht gestern Abend ließ sich der diesjährige „Provinzschrei“ nur als uneingeschränkter Erfolg bezeichnen. Ein Festival, das seinem Namen allenfalls zur Hälfte Ehre machte: Solange es lief, war Suhl alles andere als literarische Provinz.

Dass der Schrei auch außerhalb vernommen wird, daran trägt eben jener Volker Braun einen gehörigen Anteil. Der 1939 in Dresden geborene Autor, im Jahr 2000 mit der bedeutendsten deutschen Literaturauszeichnung, dem Büchnerpreis, geehrt, bescherte Suhl eine Weltpremiere. Er las aus seinem neuesten Buch „Machwerk oder Das Schichtbuch des Flick von Lauchhammer“, das erst ab heute in den Läden steht und das selbst der Autor in Suhl erstmals druckfrisch in den Händen hielt.

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Der Don Quijote
der Niederlausitz

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Das Buch erinnert an Cervantes’ „Don Quijote“. Braun verlegt die spanische Mancha ins Braunkohlerevier Niederlausitz. Sein Ritter von der

traurigen Gestalt ist eben jener Flick, ein ehemaliger Havariemeister beim Tagebau. Die Rolle des Knappen Sancho Pansa füllt Flicks Enkel aus. Wie Quijote die Ritterzeit romantisierte, so hängt Brauns Flick jener Zeit nach, in der die Schornsteine rauchten und in der ehrliche Arbeit als Sinn des Daseins galt.

Quijote kämpfte als ehrbarer Ritter für Gerechtigkeit. Flick ist ein rastloser Arbeitsloser, der überall da anpackt, wo niemand ihn braucht. „Seine Unruhe war zu lange aufgezogen“, schreibt Braun. Die Mühlen, die Flick umlegt, sind die neu aufgestellten Windräder. Mitunter setzt es für seine Einsätze Schläge, mitunter macht er die Drecksarbeit. Die letzten Widerständler gegen die verbliebenen, sich weiter vorwärts fressenden Braunkohlebagger vertreibt Flick aus dem Dorf, indem er ihren Obstgarten kurzerhand rodet.

Das anfängliche Schmunzeln der Zuhörer im Haus Philharmonie wich zunehmend einem nachdenklichen Blick, je mehr Braun mit seiner tief poetischen Sprache zum Wesen seines Romans vordrang. „Mit ihm ist eine Zeit gegangen“, heißt es schließlich im Nachwort, als Flick seinen letzten Einsatz längst bewältigt hat. Ein scheinbar einfacher Satz, der so viel enthält von den Veränderungen, die die Menschen gerade hierzulande in den vergangenen Jahren mit Hochgeschwindigkeit überrollten.

Volker Brauns „Machwerk“ war indes nicht die einzige Premiere, die die ehrenamtlichen, frisch verheirateten „Provinzschrei“-Organisatoren Hendrik und Claudia Neukirchner aufzubieten hatten. Der Suhler Autor Landolf Scherzer las aus zwei neuen Reportagen.

Sein Bericht über eine Reise im vergangenen Jahr in die nach wie vor von der Reaktorkatastrophe 1986 geprägten Landstriche rund um das ukrainische Tschernobyl erscheint in der Edition „Muschelkalk“, herausgegeben von der literarischen Gesellschaft Thüringen.

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„Etwas Werthaltiges entwickelt“

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Man darf gespannt sein. Die kurzen Episoden, die Scherzer in Suhl vorstellte, waren an Eindringlichkeit kaum zu überbieten. „Um Tschernobyl zu begreifen, müssten Sie in die kranken Seelen der Menschen dort schauen können“, hatte ihm eine Gesprächspartnerin mit auf den Weg gegeben. Scherzer berichtete er über Begegnungen mit Menschen, deren Leben nach der Katastrophe nie wieder so war wie zuvor. Und er lernte andere kennen, die einen Tripp zum Reaktor-Sarkophag als Abenteuerausflug buchen. Ein Buffet mit Blick auf das todbringenden Atomkraftwerk inklusive.

Brandneu die zweite Reportage über Scherzers Sommerreise durch Südosteuropa, die als „Grenzgänger II“ beim Aufbau-Verlag erscheinen soll. Die Anfänge dieser Reportage hat er extra für den Provinzschrei eilig zu Papier gebracht. Scherzer: „Man hat das Gefühl, es hat sich hier etwas Werthaltiges entwickelt. Und das ist das Verdienst der Veranstalter: Dass so viele unterschiedliche Sachen dabei sind – und diese Mixtur angenommen wird.“

Wirklich: Den ironischen Feingeist Max Goldt, den engagierten Friedrich Schorlemmer, die frivole Lilo Wanders, den Lokalmatador Scherzer sowie den bitterbösen Bildzeitungslesenden Kabarettisten Serdar Somuncu einte eins: Die Lesungen waren allesamt fast oder vollständig ausverkauft.