Also sind Sie ein Scharlatan", warf Otto ein, "so etwas wie ein Trickbetrüger?" Und das ist der ganze, wunderbare Trick dieses Buches. Denn im Eigentlich stellt diese Frage nicht Otto, Otto Haferkorn, ein fiktiver kleiner deutscher Kommunist in einem fiktiven sowjetischen Straflager, sondern der reale Intendant und Autor Steffen Mensching. Und dieser Trick ermöglicht ihm einen großen Wurf. Denn sein Otto Haferkorn ist ein entfernter Verwandter des einfachen, simplen Hans Castorp, der Thomas Mann als eine Art Cicerone auf dem "Zauberberg" diente. Und beinahe so viel Raum benötigt Steffen Mensching, um sich den einfachen, simplen Otto Haferkorn als Führer durch den sowjetischen Gulag und große Teile des intellektuellen Europa der zwanziger Jahre dienstbar zu machen. Wie die Klinik auf dem Berg ist auch das Lager in der Unwirtlichkeit ein geschlossener Erzähl-Raum, in dem der Autor nach Belieben herrscht und die Fenster zur Welt öffnet. Und wie Hans Castorp verschwindet Otto Haferkorn am Ende ungesehen irgendwie, irgendwo in dieser Welt.

Den Mann, dem dieses Buch gilt gab es nicht nur wirklich, er war auch eine wirkliche Berühmtheit. Rafael Schermann, geboren 1874 in Krakau, das damals zu Österreich-Ungarn gehörte, gestorben vermutlich 1943 in einem sowjetischen Arbeitslager, war ein Graphologe und, nun ja, Hellseher. Autor eines Buches über Graphologie, der Psychiater und Neuropathologe Oskar Fischer zeigte sich beeindruckt von ihm, Vortragsreisen in europäischen Ländern und den USA. Er hielt Hof in Wien, er kannte viele der Protagonisten der europäischen Kultur. Dann floh er 1933 vor den Deutschen nach Polen, als die Deutschen ihn folgten nach Lemberg, was dann sowjetisch wurde. Und starb in einem sowjetischen Arbeitslager, so grundlos wie die vielen Opfer des Gulag.

In diesem Lager landet er eben neben dem jungen Deutschen, der ihm als Dolmetscher zugeordnet wird bei den Verhören durch den Lagerkommandanten, die sich einer zu Trotzki führenden Namensverwechslung verdanken. Und als der ehrgeizige Kommandant mit seinem Tschechow-Seufzer "Nach Moskau!" abgelöst wird, da ist es der Patriarch der Kriminellen, der beide benötigt, den hellsehenden Graphologen, um durch die Schriftanalyse seine Zukunft zu erfahren, den Deutschen, um die Voraussetzung dafür, das Schreiben, zu erlernen. Und da die Geliebte des Banditen überdies den alten Arzt, für den sie Schermann hält, um Hilfe für eine Schwangerschaft bittet, die schließlich der junge Dolmetsch leistet, hat Mensching alles bereitet, um seine Geschichte zu erzählen. Es ist die Geschichte von Rafael Schermann, die Geschichte vom Gulag und seinen Opfern, und es sind viele kleine Geschichten der europäischen Intellektuellen.

Der Autor betrachtet seinen wirklichen Helden mit den Blicken seines erfundenen Helden, das ermöglicht ihn die respektvoll-skeptische Perspektive auf Schermann. Der Theatermann Mensching - der auch einmal heiter kokettiert, zur Leitung eines Stadttheaters bedürfte es wenig Talent, nur viel Größenwahn und Selbstvertrauen - Mensching also inszeniert mehrere Vorführungen Schermanns, in denen dieser quasi Varieté-Auftritte gibt, eine Mischung aus wirklichem Können und schlitzohriger Cleverness, den Rest lässt er stehen, gleichsam als Agnostiker. Ein wenig will es da scheinen, als erweise ein intelligenter Clown einem vermuteten Kollegen den heiteren Respekt.

Und seiner eigenen Rechercheleistung. Denn Mensching, der zwölf Jahre an seinem, wie man so sagt, Opus magnum arbeitete, hat sich ein eindrucksvolles Wissen über Intellektuelle und Politiker erworben und breitet es aus, eine Art von literarischem Namedropping. Denn Rafael Schermann kannte sie tatsächlich alle und Otto Haferkorn hat hier eine kurze Romanze mit Maria Osten, deren Leben das hergibt, wodurch Michail Kolzow wie von selbst folgt, Ernst Busch natürlich. Ottos Arbeit in der Moskauer Deutschen Zentral-Zeitung ermöglicht ihn fiktive Begegnungen etwa mit Hugo Huppert, dessen Namen dort wohl nicht den Glanz hatte, mit dem ihn seine Majakowski-Übersetzungen in der DDR umgaben. Und Schermanns Notizbuch ist voll von Namen, über die er kleine Geschichten erzählt. Oskar Fischer, Alfred Döblin, Ivan Goll, Bela Balázs, Sergej Eisenstein, Adolf Joffe, Alfred Adler, Emil Gutheil, auch ein Besuch im Hause Karl Kraus. Der rapportierende Leser gesteht, so manches Mal einen unbekannten Namen im Netz gesucht und gefunden zu haben. Bei Vera Tschaplina war das nicht notwendig, wenn Otto und Maria vor Kinulis Käfig stehen ist das wohl eine kleine Reverenz an ostdeutsche Kindheiten.

So gelingt Mensching ein komplexes, notwendig fragmentarisches Panorama sowohl der sowjetischen Gesellschaft in ihrer Degeneration als auch der da schon versunkenen Welt des alten Europa. Wir sehen diese Welt mit "Schermanns Augen", es ist eine in Schönheit gestorbene Welt. Und um Schermann herum eine Welt in der Menschen und Ideen gemordet werden in der zynischen Brutalität der neuen Welt. Gestorben.

Steffen Mensching markiert nirgendwo die wörtliche Rede, er erzählt in großen, absatzlosen Textblöcken, diese 800 Seiten haben etwas von einem Steinbruch, von einer durch Erzählung verbundenen, sehr lesbaren Sammlung vieler kleiner Geschichten. Wer sich darauf einzustellen den Willen und das Interesse hat, der gewinnt eine eindrucksvolle Lektüre.

Steffen Mensching: "Schermanns Augen", Wallstein Verlag - 28 Euro.