Natürlich, Workuta. Liegt nicht in Sibirien, Herr West-Schreiber. Weshalb ein Erfurter Chefredakteur zwar „robust genug“ sein darf, aber doch nicht als gedachter Tundra-Zögling. So lässt sich manches bekritteln an diesem Buch. Dass DDR-staatsferne Menschen per se gut sind oder geeignet für Höheres. Dass angeblich VEB-Direktoren vietnamesische Gastarbeiterinnen im Falle von Schwangerschaft zur Heimreise zwangen. Dass Ost-Richter praktisch biologisch zu blöd waren fürs West-Recht.

Von diesen Stockfehlern mal abgesehen: Ein überfälliges, ein frisches und freches Buch. Gunnar Hinck wägt nicht ab, eiert nicht rum, polemisiert. Nicht so sehr im Stil, aber in der Sache. „Eliten in Ostdeutschland“ heißt es, im Untertitel „Warum den Managern der Aufbruch nicht gelingt“. Hinck hätte auch schreiben können, „warum der Osten nicht aus dem Arsch kommt“. Nur keine Milde!

Seine Kernthese ist denkbar einfach: Der Osten kann es nicht, weil er gar nicht können kann. Keine Visionen, kein Selbstbewusstsein über ein Wardochnichtallesschlecht hinaus. Die Schnuller-Ningligkeit eines halbsatten Halbvolks. Seine Eliten als Abbild desselben: Mehr oder weniger Zufalls-Aufsteiger, im richtigen Moment gesalbt im Öl der Nicht-Zugehörigkeit zur SED, zur Stasi, zum DDR-Apparat. Oder Wendehälse, die lebenslange Überzeugungs-Behauptungen „hinlegen“, um weitgehend unangefochten von Selbstzweifeln fröhlich pragmatisch in dem machen, was ihnen Demokratie deucht. Oder „Aufbauhelfer“ aus dem Westen, die ihre Flucht aus der dortigen Bedeutungslosigkeit entweder mit dem nationalen Ehrenkränzchen selbstlosen Pioniertums in der ostdeutschen Prärie geadelt sahen, wenn sie nicht ganz und gar unsentimental sagten: Osten, da geht was – für mich.

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„Notgemeinschaft“

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Sie alle zusammen, nicht gemeinsam, führen die schon ziemlich alten neuen Länder an, besser: Sie stehen ihnen vor, irgendwie. Eine „Notgemeinschaft“ macht Hinck aus, eine Versammlung von Narzissen, Versagern, Fehlbesetzungen. Konkurrenz-schissige Unternehmens-Egoisten in der Wirtschaft, hilflose Status-Quo-Verwalter in der Politik, Medienleute als phantasiefreie Zwischenhändler staatstragenden Opportunismus. Man denkt: Mein Gott, wenn das der Westen wüsste (wie früher Stalin oder Ulbricht). Wahrscheinlich weiß er’s ja. Und stört sich nicht dran. Warum auch: Genau so passt der Osten. An die Stammtische unten und die Stehbankette oben.

Zum Beleg seiner Thesen hat sich Hinck 14 Menschen ausgesucht, sozusagen ein Elitetörtchen pars pro toto. Jedes Stücklein, jedes Porträt scheint zu bestätigen, was der Autor schon in seinem überdehnten Vorwort predigt und was bereits Luther wusste: Aus einem verkniffenem Arsch kommt kein fröhlicher Furz. So ist die Quintessenz der Porträts stets erwartbar; klug und vergnüglich zu lesen sind sie, meistenteils, dennoch. Auch die der Elite-Thüringer. Da wäre neben dem bereits erwähnten Chefredakteur, dessen sowjetische Biografie, wie sie Hinck schildert, ein seltsames Paradoxon eingeht mit provinzfürstlicher Zeitungsregie auf der Basis der Akkumulation ehemaliger Mitarbeiter-Kapitalsanteilen, zunächst Alexander von Witzleben, zum Zeitpunkt des Porträts noch Chef der Jenoptik AG.

Hinck beschreibt ihn als zahlenkalten Gastarbeiter, der den Laden nach den staatlich finanzierten Aufblähungen seines Vorgängers Lothar Späth nun wieder in renditesichere Kerngeschäfte schrumpft, dem indes schlicht egal ist, ob es um den Leuchtturm Jena irgendwann noch einmal hell wird: „Den Altenburger erreiche ich nicht. Dem kann ich nichts mehr erklären.“ Früher hieß das: Der doofe Rest. Witzleben in seiner selbstverständlichen Internationalität und Share-holder-Bezogenheit, so Hinck, „könnte auch in einer Schuhfabrik sein“.

Wahrscheinlich. Aber Witzleben hat nicht im Turm der Aktienwerte gehockt. Er hat Kunstprojekte gefördert, gegen Theaterabbau und Familienoffensive gestritten, sich für größere Kreise, Städtefusionen und mitteldeutsche Kooperationen eingesetzt. Obwohl oder weil er auch den Ministerpräsidenten beriet. Er hat Späths Kurs beendet, nachdem die Jenoptik an die Wand zu fahren drohte als Thüringer Weltkonzern des glitzerndem Hightech-Mischmasch.

Darf man also ihm den Vorwurf von Visionsarmut machen, wenn doch der jahrelang größte Anteilseigner, der Freistaat Thüringen, auch keine andere wirtschaftspolitische Strategie hatte als das Bejubeln von Firmen-Shopping? Christine Lieberknecht zum Beispiel, die Hinck dem Leser andient als Vorkämpferin für den schlanken Staat und für Bürger, die keine Rundumversorgung wollen sollen. Indes: Die behauptete libertäre Grausamkeit der heutigen CDU-Fraktionschefin bleibt ohne Beleg durch wirklich stützende Zitate. Stattdessen holt Hinck Lieberknechts Nischen-DDR-Leben aus der Kiste, die zumutungsfreie Jugend im Pfarrhaus, ihre dörfliche Karriere unter der Kirchen-Glocke. Heute, resümiert Hinck, durchtrappelt Lieberknecht als 24-Stunden-und-Spaß-dabei-Figur die politische Landschaft, weil sie sich vordem „lange Jahre ausruhen konnte“. Das ist kein guter Journalismus – höchstens Vulgärpsychologie.

Nachvollziehbar bleibt schon eher, warum Innenminister Karlheinz Gasser fremdelt an der freistaatlichen Bratwurst-Front: In der Politik wie in Thüringen fühlt er sich als Gast. Einem Justiz-Beamten wie ihm, den Thüringer Personalnot in den Ministersessel hob, dem die Störfreiheit staatlicher Mechanik per Gesetzes-Öl höchstes Gut zu sein scheint, fehlt politisches Bauchgefühl – zum Beispiel für die Brisanz von vordringendem Rechtsextremismus außerhalb von Straftatbeständen wie auch für das Beleidigtsein von Landtagsabgeordneten, wenn er ihnen etwa bei der Entscheidung über Polizeistrukturen einfach an der ohnehin kargen Decke ihrer Zuständigkeiten herumschnippeln will. Ob Gasser indes tatsächlich jeden Morgen geistig einen PDS-Parlamentarier frühstückt, weil er sie mit den Apo-Delinquenten seiner Frankfurter Amtsrichter-Zeit verwechselt, klingt dann doch wieder arg herbeipsychologisiert.

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Schizophrenie

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An dieser Stelle müsste, quasi als Drittel-Gastthüringer, noch der MDR-Chefredakteur Wolfgang Kentemich folgen. Hincks Beschreibung dieses Wendegewinners legt eine Art beruflicher Schizophrenie offen, bei der man nicht weiß, ob man lachen oder weinen soll. Dass das so genannte mitteldeutsche Fernsehen unter seiner Führung als – wohlmeinend formuliert – gesendete Harmlosigkeit daherkommt, dürfte trotzdem nicht nur dem dereinst gefeuerten „Bild“-Reporter geschuldet sein.

Was Hinck vorzuwerfen bleibt, ist sein allzu auswählender Blick auf die Ost-Eliten und seine Verdächtigung, Pragmatismus entspringe bei allen geistiger Armut oder visionärer Selbstentleibung. Der Blick über Tellerränder, die Lust am gesellschaftlichem Diskurs braucht gerade im Osten neben allen anderem auch Zeit. Die Eliten hier sind noch unnatürliche, bedingt durch die Wiedervereinigung, aber auch durch ihre vormalige Rotation und Flucht zu DDR-Zeiten. Andererseits: Nie war es so leicht, selbst Elite zu werden. Wer in die dürren Parteien im Osten eintritt, hat etwa bei der SPD rein numerisch größeren Einfluss auf seinen Landesvorstand als ein Kreisvorsitzender im Westen auf die Bundesspitze. Jeder halbwegs erfolgreiche Unternehmer könnte hier Kammern tanzen lassen. Der Stillstand Ost, seine quengelnde Demut, ist eine Bequemlichkeit nicht nur der Eliten.

Gunnar Hincks „Eliten in Ostdeutschland. Warum den Managern der Aufbruch nicht gelingt“ ist erschienen im Christoph Links Verlag und kostet 16,90 EUR.