Wenn die Romanciers des 19. Jahrhunderts ihr literarisches Personal aus den Städten hinaus und zur Sommerfrische aufs Land schickten, dann müssen sie Tage wie diesen 27. Juli und Orte wie Kloster Veßra im Sinn gehabt haben. Ein Fleckchen Natur mit malerisch dahingestreuten Häusern. Wo es nicht mangelt an Annehmlichkeiten für Mußestunden an einem schwülheißen Nachmittag, der nur langsam übergeht in einen Kühle gönnenden Abend: schattige Plätze, um Picknickdecken auszubreiten, kühler Wein und künstlerische Darbietungen. Wo zugleich jene Aufgeregtheiten des Alltags fern sind. Keine lärmenden Straßen, kein hektisch fiependes Smartphone.

Ort und Tag hätten nicht besser gewählt sein können von den Machern des Suhler Vereins Provinzkultur für den "Poesie-Sommer" 2013. Eine Premiere war die Landpartie nicht. Im vergangenen Jahr hatten sie schon einmal ein gutes Dutzend Autoren und Freunde des gut gesetzten Wortes in das ehemalige Prämonstratenser-Kloster nahe Themar eingeladen. Für lange Lektürestunden unter freiem Himmel, unterbrochen von Musik und kleinen Stärkungen im Kornhaus, das laut den Quellen schon vor einem halben Jahrtausend an dieser Stelle stand und heute die Verwaltung der weitläufigen Museumsanlage beherbergt.

Wie viele genau zum Zuhören gekommen sind an diesem Samstag, ist schwer zu sagen. Zwar kann der achtstündigen Folge von Lesungen auch in Gänze gelauscht werden, anfangs im Laubengang und im angrenzenden Park, später im Klausurhof. Doch der sich wandelnde Schwerpunkt mit zunächst Kinder- und Jugendliteratur, dann lyrischen Werken, noch später Texten, die eher für das erwachsene Ohr geschrieben wurden, zielt klar auch auf ein immer wieder anderes Publikum.

Premiere für Reportagen

Während gegen 20 Uhr in der Pause junge Familien die Rückfahrt antreten, schlendern noch immer neue Besucher durch das Tor. Am größten war der Andrang wie zu erwarten bei jenem aufmerksamen Gesellschaftsbeobachter, der nur mit einem handschriftlichen Manuskript vor seine Zuhörer trat. Kein durchgearbeiteter, druckfertiger Text, dafür aber erstmals öffentlich zu hören. Reportagen - wie sollte es anders sein bei Landolf Scherzer. Für sie war er nach Griechenland gereist. Hat dort mit Scham das Gebaren seiner Landsleute bei einer All-inclusive-Reise festgehalten hat sich bei einem zweiten Aufenthalt mit Neugier in das Hotel "Europa" begeben, das keinen Fahrstuhl hat, weil in "Europa" sein Päckchen jeder selber tragen muss, der hoch hinaus will. Und in dessen Räumen man seine Worte gut bedenken sollte, weil die dünnen Wände geradezu zum Lauschen einladen. Einige lachen, anderen ist an dieser Stelle nicht danach zumute.

Mittlerweile dämmert es. Strickjacken werden über luftige Sommerkleider gezogen und Leggings darunter. Jörg Dietrich aus Weimar liest gerade seinen Beitrag aus der 2012 veröffentlichten Anthologie "Leck mich am Leben". Eine Erzählung über jugendliche Punks in der DDR, Aufbegehren, Dagegen-Sein. Mehr aber noch eine Geschichte über wahre Freundschaft. Schnell ist der Protagonist Heavy ins Herz geschlossen, der nach einem dummen Pogo-Missgeschick mit Querschnittslähmung im Rollstuhl sitzt.

Wieder ist es den Kulturmachern aus Suhl gelungen, ein literarisches Büfett anzurichten, das für jeden Geschmack etwas zu bieten hat. Kein Schaulaufen der großen Namen - das gibt es beim Hauptwochenende des Provinzschreis Mitte Oktober. Aber ein des Zuhörens werter Querschnitt des schriftstellerischen Schaffens in Thüringen. Ohne sich exklusiv auf den Freistaat zu beschränken.

Ein letztes Glas Rotwein

Mit Jakob Hein und Jacinta Nandi betreten gegen 22 Uhr zwei Berliner den Klausurhof, die mit einer durchaus erfrischenden Theorie über den Zusammenhang zwischen häufigem Krautverzehr und gehobenen Liebhaberqualitäten aufwarten. Bühnentalente, beide. Im Doppelpack ein Vergnügen, wenn sie ihr gemeinsames Werk "Fish 'n's Chips & Spreewaldgurken" präsentieren. Plötzlich fällt der Strom aus, ist für einige Minuten Improvisationsvermögen gefragt. Ein Handy spendet den Autoren Licht, wenn alle ganz leise sind, kann man sie auch hören.

Als Hein und Nandi das Wort an Rudi Berger übergeben - mit Jahrgang 1924 der älteste Vortragende am diesem Tag -, bricht die achte Lesestunde an. Wer Gefallen gefunden hat an einem der vorgestellten Werke, schaut am Büchertisch vorbei. Andere holen ein letztes Glas Rotwein. Die Baracketenband aus Ilmenau wird noch einmal spielen. So klingt ein schöner, ein poetischer, ein kurzweiliger Klostertag in einer 23 Grad lauen Julinacht aus.