Es war nur für eine kurze Zeit, nur für wenige Jahre, dass sich in Jena eine Bewegung bündelte, die die beschauliche Stadt mit ihren rund 5000 Einwohnern zum geistig-kulturellen Mittelpunkt Europas machte. Friedrich Schiller, Johann Gottlieb Fichte, die Brüder Friedrich und August Wilhelm Schlegel, der Philosoph Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, der Dichter Novalis und über allen Johann Wolfgang von Goethe als eine Art Vaterfigur: Sie alle hatten sich um 1800 dort niedergelassen - als Dozenten an der Universität, eine der ersten überhaupt, an denen die Philosophie Kants gelehrt wurde: "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen."

Anspruch eines Sachbuchs

Mehr als zwei Jahrhunderte später. Der studierte Philosoph Peter Neumann lehrt an dieser Universität, an der damals die Denker, heute weltbekannt, ihre Vorlesungen hielten. In seinem Buch "Jena 1800. Die Republik der freien Geister" hat der wissenschaftliche Mitarbeiter diese bewegten Zeiten beeindruckend greifbar geschildert. Inhaltlich mit dem Anspruch eines Sachbuchs, ja, das auf den Umbrüchen in der Epoche fußt, nachdem die Bürger in Frankreich ihren König gestürzt haben und Immanuel Kant mit seiner "Kritik der reinen Vernunft" zum eigenständigen Denken aufrüttelt. Aber, und das macht Neumanns Buch so besonders, es beschreibt nicht stumpf und nüchtern Fakten wie im Lehrbuch, sondern es lebt Geschichte. Den Kapiteln liegt eine Handlung zugrunde, die sich an den historischen Personen entlang hangelt und sie zu Hauptfiguren werden lässt wie in einem Roman.

Angelpunkt ist die Adresse Leutragasse 5, wo der Kreis um die Brüder Schlegel und ihre Frauen Caroline und Dorothea zusammenkommt. In illustren Mittagsrunden tauschen sich die Intellektuellen aus über die neueste Philosophie- und Literaturforschung, werden dabei herrlich menschlich, wenn sie über Schillers Glocke herziehen oder Novalis mit einem seiner Essays durchfällt. Von Kritik bleibt niemand verschont, der Konkurrenzdruck trotz Freundschaft ist immer gegenwärtig. Peter Neumann schafft es, selbst komplizierte philosophische Diskussionen so publikumsnah zu formulieren, dass auch schwierige Themen für den Leser verständlich sind.

Es erinnert ein bisschen an die Kommunen der westdeutschen 68er-Bewegung, so locker und dennoch tiefgründig vergeistigt die Gemeinschaft daherkommt. Selbst die erotische Schiene wird bedient, als Caroline, eigentlich mit August Wilhelm Schlegel verbandelt, einen Flirt mit Schelling beginnt. Wie Goethe - der in diesen Jahren so einige Kilos zu viel mit sich herumgeschleppt haben soll - sich ungelenk in Schlittschuhen auf dem Eis versucht: Sicherlich ein Highlight im Buch; hebt es doch den Dichter, der damals an der Universität großen Einfluss gehabt haben soll, ein wenig von seinem fast übermenschlichen Thron und macht ihn zu einem Menschen auf Augenhöhe.

So nah dran

Das alles lässt den Leser so nah ran an diese Dichter, Philosophen und Wissenschaftler, die man bisher eher hintergründig als Autoren ihrer Werke kennt, dass es sich wie eine selbst erlebte Zeitreise anfühlt, in der man es sich zwischen diesen frühen Promis auf der Couch bequem macht. "Die Leutragasse 5 war eine gesellschaftliche Utopie im Kleinen: Gemeinsam leben, denken und streiten, geht das - und wenn ja: wie?", sagt Peter Neumann. Die Gruppe habe ganz unterschiedliche Funktionen erfüllen können: Freundschaftsbund, Netzwerk, intellektueller Hotspot. Das Einzigartige daran sei, dass die dort entwickelten Denkfiguren nichts von ihrer Gegenwärtigkeit verloren hätten. "Das Leben wird zu einer permanenten Revolution. Ungewissheit zieht in den Alltag ein. Umbruch, Beschleunigung, Unsicherheit, das sind die Erfahrungen um 1800, die bis in unsere eigene Gegenwart hineinreichen."

Das meiste, sagt Peter Neumann, lasse sich in der Tat historisch belegen. Bei seinen Recherchen hat er sich durch Tageskalender, Briefwechsel, Notizen, Lebenserinnerungen, Chroniken und Reisebeschreibungen gewühlt. All das zusammen ergab wie ein Puzzle das Bild, das der Dozent in eine Geschichte umgewandelt hat - "plastisch inszeniert", nennt er es. "Da es sich um ein erzählendes Sachbuch handelt, gibt es natürlich Passagen, die etwas freier mit dem Quellenmaterial umgehen, ein Privileg, das man zweifelsohne gegenüber einer rein wissenschaftlichen Arbeit genießt", sagt er. Darüber hinaus stelle sich aber auch die Frage, wie Geschichte, insbesondere Geistesgeschichte, überhaupt dargestellt werden könne.

Und da wählt Peter Neumann einen ähnlichen Weg wie der britische Historiker Ian Mortimer, der in seinem Bestseller "Im Mittelalter - Handbuch für Zeitreisende" den Alltag im 14. Jahrhundert lebendig werden ließ, oder Bruno Preisendörfer, der in "Als Deutschland noch nicht Deutschland war" in die Goethe-Zeit und in "Als unser Deutsch erfunden wurde" in die Luther-Zeit sprang. Peter Neumann sieht in der literarischen Form eine Möglichkeit, in den Schichten des Vergangenen tiefer nach dem Gegenwärtigen zu graben und es dadurch lebendig zu machen. "Insofern geht es nicht nur darum, einen schwierigen Stoff einem breiteren Publikum zu vermitteln, sondern auch darum, dem Fortwirken der Vergangenheit in der Gegenwart auf die Spur zu kommen."

Peter Neumann: Jena 1800. Die Republik der freien Geister. Siedler - 22 Euro.