"Der Rote" liegt auf der Scherzer'schen Ofenbank. Scheinbar achtlos hingeworfen auf eine vom Schlummer zerwühlte Decke. Der Verlag hat ihm das Buch gerade zugeschickt. Landolf Scherzer sitzt an einem klobigen Holztisch und blickt, über eine Schale gefüllt mit Äpfeln hinweg, hinaus in den Garten und hinunter in das Tal, das nach einem halben Kilometer in Dietzhausen endet. Hier, an diesem Tisch, hat er das Manuskript geschrieben. Hier saß der Mann, um den es geht auf diesen 363 Seiten. Links von ihm schlummert hinter der Fensterscheibe die Katze. Er hat sie aufgelesen und "Stromer" genannt, ihr einen Sitzplatz eingerichtet, ein Brett schräg ans Fenster gelehnt, damit sie auch hoch kommt. Sie ist nicht mehr die Jüngste. Und links von ihm hängt ein Kalender mit lauter blauen Strichen. Das sind die Termine der Lesungen. "Ich mache das sonst nie", sagt Scherzer. "Diesmal sind es viele." Die erste, das ist Tradition, wird am Dienstag im Suhler Buchhaus bei Fritz Waniek sein.

Keine zehn Sätze

Als Versuch, den Menschen Politik "mit ihren Höhen und Tiefen" nahe zu bringen, beschreibt er sein Buch. Das sagt sich so leicht. Und das klingt, weiß Landolf Scherzer, auch furchtbar banal. Wie mühsam das ist, hat er in den letzten Monaten erfahren, als er sich an die Fersen von Bodo Ramelow geheftet hat, den ersten Linken auf dem Erfurter Chefsessel. Er hat ihn auf dem Cover den "Roten" genannt. Nicht nur, weil der "Erste" seit 1988 als Buchtitel bereits vergeben ist. Auch, weil der "Erste" im DDR-Sprachjargon etwas anderes meint: "Erster Sekretär der SED-Kreisleitung". Hans-Dieter Fritschler hieß der Mann, den Scherzer seinerzeit als Bad Salzunger Kreis-Chef porträtierte. Danach folgten der "Zweite" und der "Letzte". Und jetzt eben der "Rote" Bodo Ramelow.

Scherzer sieht diese vier Bücher in einem inneren Zusammenhang, als "Stückchen deutscher Geschichte der letzten 25 Jahre", wie er bescheiden formuliert. Immer war er diesen schillernden Begriffen von Macht und Ohnmacht auf der Spur. Wollte wissen, was Menschen mit ihnen anstellen. Und auch, wie Menschen durch sie verändert werden. Da ist Bodo Ramelow eine gute Gelegenheit. Der erste Rote. Für ihn kein Unbekannter. "Soll ich nun Du sagen oder Herr Ministerpräsident?", erinnert sich Landolf Scherzer an sein erstes Telefonat mit Bodo Ramelow. "Ich kannte ihn von der Erfurter Erklärung und vom Hungerstreik in Bischofferode, aber bis auf ein längeres Interview hatte ich keine zehn Sätze mit ihm gewechselt." Trotzdem steht ihm dieses "Du" im Wege. Und auch der Umstand, dass da ein Linker über einen Linken schreibt. Scherzer weiß das. Wie kann man da so gut es geht objektiv sein? "Ich habe versucht, meine eigene Unsicherheit beim Umgang mit ihm mit ins Buch zu bringen", sagt der Autor.

Er spricht vom "Erkennen" und "Begreifen", wenn er von seinen Begegnungen mit dem Thüringer Ministerpräsidenten erzählt, von seinen Spaziergängen mit ihm, vom Friseurbesuch oder einem Termin bei den Sternsingern. Einmal haben sie in Dietzhausen zusammen gekocht, er hat ihm seinen Garten gezeigt, sie haben an seinem Holztisch gesessen, auf den sich nun, nachdem das Buch fertig ist, nicht mal ein Bleistift verirrt. Alle Manuskriptseiten, alle Notizen sind weggepackt, so wie Schüler am Ende eines Schuljahres alle Hefte und Bücher weit wegzupacken pflegen. Nun sind erst einmal Ferien. Nun, sagt Landolf Scherzer, kümmert er sich erst mal um den Garten.

Hundert Tage Schonfrist hatte er Bodo Ramelow gegeben. Dann wollte er 14 Tage lang ununterbrochen an seiner Seite sein, eintauchen in die Welt der Mächtigen. Von Macht und Ohnmacht erfahren und alles aufschreiben. Am Ende musste er sich mit vielen einzelnen Begegnungen begnügen. "Mehr ging einfach nicht", sagt Scherzer. Dafür hat er neben Ramelow fast die ganze Regierungsmannschaft beobachtet und auch mit der Opposition gesprochen. Er wollte sehen, wie sich Bodo Ramelow bewegt, welche Liaisons sich bilden, und welche Feindschaften. Er warnt auch gleich all jene, die sich von seinem Buch Enthüllungs-Storys aus dem Erfurter Politikbetrieb versprechen: "Ich bin früh von dem Dampfer gestiegen, dass ich etwas herausfinden könne, was noch niemand weiß", sagt Landolf Scherzer. Wer so sein Buch lese, werde enttäuscht sein. "Aber wer etwas über die Menschen erfahren möchte, die Thüringen regieren. . ."

Macht, um zu verändern

Er lässt den Satz unvollendet im Raum stehen, weil er sich kein Urteil anmaßen will. Ob der "Rote" ein aufklärerisches Buch sei, müsse jeder selbst für sich herausfinden. Er habe eine Momentaufnahme einer Gesellschaft versucht - mehr nicht. Aber auf etwas ist er dann doch ziemlich stolz: "Ich habe das Buch ohne Internet geschrieben." Er hat nicht nachgeschaut im Netz, wenn er nach Antwort suchte. Er hat beobachtet. Das ist Scherzers Methode, so hat er alle seiner Bücher geschrieben.

Und so ist da die Beobachtung eines Menschen, der in armen Verhältnissen in der niedersächsischen Provinz aufgewachsen ist. Der den Vater früh verloren hatte und von seiner Mutter Schläge bekam. Der schließlich eine Lehre zum Handelkaufmann begann und dann Gewerkschafter wurde. Wenn so jemand Macht bekommt, wie wird er sie nutzen? Scherzer ist überzeugt, dass Bodo Ramelow nie den Wunsch hatte, übermächtig zu werden wie ein VW-Boss. Sondern Macht nutzen würde, um sich einmischen zu können, um etwas in sozialer Hinsicht zu verändern. Er hat bei den Begegnungen mit Bodo Ramelow eine Vorliebe für "kleinteilige Verhältnisse" ausgemacht, für genossenschaftliche Lösungen. Daran, sagt er, erkenne man die Prägungen der armen Verhältnisse. Er beschreibt Bodo Ramelow als Menschen, dem es nicht leicht fällt, Freundschaften zu pflegen, der auch schon mal patzig wird, wenn man nicht seiner Meinung ist. Der selbst Bierkästen in seine Wohnung in den vierten Stock hoch schleppt, der mit Wahlversprechen in Konflikt gerät - etwa beim Pumpspeicherwerk, der beim Regieren auf Realitäten trifft, die da zum Beispiel Thüringer Landeshaushalt heißen, der einst gegen die ICE-Strecke protestierte, aber heute den Erfurter Bahnhof nach Bernhard Vogel benennen würde.

Solche Widersprüche sind es, die ein menschliches Bild zeichnen vom ersten Roten in der Thüringer Staatskanzlei. "Ich hatte keine Erwartungen", sagt Landolf Scherzer beim Blick zurück auf die ersten Tage seiner Recherche. "Die Banalität der Menschen hat mich manchmal mehr zum Staunen gebracht als die Politik." Vielleicht ist das eine der wichtigsten Erkenntnisse des Buches. Er sei nicht mehr der polternde Oppositions-Rebell, sagt Scherzer über Ramelow. Er habe sich Diplomatie angewöhnen müssen. So habe die Macht ihn verändert. Aber er scheint seltsamerweise der Versuchung entrückt, nun auch ein Mächtiger zu sein. Im Urlaub an der Ostsee, erzählt Scherzer, habe Ramelow das Manuskript zu seinem Buch gelesen. "Immer 30 Seiten, dann habe ich eine SMS bekommen, wir könnten telefonieren und reden." Ramelow habe kaum etwas geändert. Auch nicht an den Stellen, an denen Scherzers Beobachtungen ihn in wenig positives Licht rücken. Als er den "Ersten" schrieb, war das noch anders.

Eigentlich wollte er ihm ein persönliches Exemplar zuschicken, sagt Landolf Scherzer. Aber der Ministerpräsident musste am sonnigen Sonntag, "mal raus". Mit Frau und Hund ist er spontan nach Dietzhausen gefahren. Scherzer hat Pilze gebraten und ihm den "Roten" geschenkt. Pilze? Der Südthüringer Autor lacht. Keine Sorge, soll das heißen. Nein, das Buch war wohl nicht achtlos auf die Ofenbank geworfen. Es ist, wenn wir richtig gezählt haben, das 25. Buch Scherzers. Ein Roter als Jubiläumsband im Einheits-Jubeljahr. Wenn das kein Zufall ist!

Buchpremiere Dienstag Abend, 20 Uhr, im Buchhaus Suhl. Weitere Lesungen: 18.10. Steinbach-Hallenberg (14 Uhr, gemeinsam mit Bodo Ramelow in Kanther's Café), 19.10. Schmalkalden (19 Uhr, Mehrzweckhalle), 24.10. Bad Liebenstein (19.30 Uhr, Stadtbibliothek), 30.10. Bad Salzungen (19 Uhr, Buchhandlung Laßmann), 2.11. Zella-Mehlis (19 Uhr, Stadtbibliothek)

Landolf Scherzer: "Der Rote. Macht und Ohnmacht des Regierens" - Aufbau 2015, 19,95 Euro