Der zentrale Glaspalast öffnet bereits vor Zehn. Menschentrauben zeigen, wo die Röhren in die vier Messehallen führen. Gleich treten die Security-Mitarbeiter zur Seite, geben den Weg frei. Ein neuer Tag der Buchmesse beginnt. Ein Tag, an dem sich wieder Zehntausende durch die Gänge schieben. Ein Tag, an dem Autoren, Verlagsleute und Journalisten von Termin zu Termin hetzen. Landolf Scherzer und sein neues Buch "Immer geradeaus" immer mittendrin.

Gestern war er mit einem Fernsehmann unterwegs. Das Buch erzählt vom Marsch 2008 durch südosteuropäisches Niemandsland. Also hatte der TV-Journalist den Schriftsteller über ein einsames Feld gejagt: Zwei Stunden lang. Dann suchten beide noch die Klemmschiene, die dem Kameramann auf dem Acker abhanden gekommen war.

Heute beginnt der Marathon 10.15 Uhr. Gespräch und Lesung bei MDR-Artour-Redakteur Titus Richter. Richters Fragen wird Scherzer noch ein halbes Dutzend Mal so oder so ähnlich beantworten. Journalisten sind auch nur Menschen.

Enormer Geräuschpegel

Die Fans warten schon. Scherzer kommt in Jeans und Wollpullover, trägt einen roten Rucksack. Er erzählt, dass ihn sein Kumpel mit dem Traktor im Stich ließ. Dass er "keine Liebesgeschichte dazu erfinden" kann. Dass seine Reportagen spannend sein sollen wie Romane. Dass die "kleinen Leute" interessantere Leben führen. Und dass Jugoslawien nicht an ihnen gescheitert ist.

An der LVZ-Autorenarena wartet Jürgen Kochinke, der nächste Interviewer. Man kennt sich aus der Zeit, da Scherzer für "Der Letzte" recherchierte. Aus der proppevollen Arena dringt eine bekannte Stimme: Ex-Mister-Tagesthemen Ullrich Wickert. Noch 30 Minuten bis Scherzers Auftritt. Gelegenheit, frische Luft zu schnappen. Je länger der Tag, desto mühsamer kämpft die Klimaanlage gegen Myriaden Schweißdrüsen. Gegen den enormen Geräuschpegel in den Hallen wie bei einem Langstreckenflug hilft kein Mittel.

Immer wieder wird Scherzer aufgehalten. Ein Plausch mit Karat: Letztens erst trafen sie sich im Riverboat. Und unvermittelt halten ihm wildfremde Menschen Exemplare seiner Bücher unter die Nase: "Bitte, Herr Scherzer." Er nimmt sich für jede Widmung Zeit. Aus der Pause nach dem LVZ-Interview wird aber nichts. Dana Alexandra Scherle von der rumänischen Abteilung der Deutschen Welle wartet. Weil er doch auch durch Rumänien gelaufen ist.

Aufwartung bei Bosch

Eine Gruppe sammelt eine Fortsetzungsgeschichte darüber, wie es Wölfen in einer fremden Stadt ergeht. Sie fragt nach zehn Zeilen. Der bisher letzte Autor hatte die Wölfe aus einer Bäckerei vertreiben lassen. Scherzer horcht in sich hinein. Dann schreibt er die Geschichte fort und lässt dabei eine Kundin den Wölfen das Brot hinterher tragen.

Selbst kommt er nicht zum Essen. Das nächste Interview geht live über den Äther. Also weiter durch die Massen kämpfen. Für 200 Meter vom Aufbau-Verlag bis MDR-Figaro darf man einige Minuten einplanen. Und die Gesprächroutine wächst. Als Scherzer erzählt, wann er auf der Tour fremde Leute um einen Schlafplatz bat, blickt er jemanden im Publikum an: "Wenn jemand so mütterlich aussah wie Sie."

Die Aufwartung bei der Bosch-Stiftung, die das Buch gefördert hat, bringt ein Häppchen für die müden Glieder und ein Glas Wein für den müden Geist. "Er hat am meisten Termine von allen Schriftstellern", vermutet seine Lektorin Angela Drescher.

Der Messetag geht zu Ende, Scherzers Tag noch nicht. Abends wird er bei der Lesung in der Friedrich-Ebert-Stiftung in der Innenstadt das Publikum zu Lachsalven hinreißen und zu Tränen rühren. Wie er jetzt aber müde im Sessel sitzt, möchte man das nicht vermuten. Als Antwort auf die Frage, ob er privat durch die Messe schlendern würde, zieht der Mann, der im Alter von 67 Jahren 500 Kilometer gelaufen ist, nur die Augenbraue hoch: "Weißt du, wie fertig ich bin?"