Er wollte mehr: Ein Löffel Haferschleim war dem Waisenknaben Oliver Twist zu wenig. Auch sein geistiger Vater, der englische Schriftsteller Charles Dickens wollte stets mehr, selbst als er schon ein erfolgreicher Schriftsteller war. Das bekamen seine Herausgeber zu spüren, seine Frau und seine Kinder. Die Leser rührte Dickens mit seinen Sozialromanen, im privaten Umfeld galt er als egozentrisch und habgierig. In Landport bei Portsmouth in Südengland wurde er am 7. Februar 1812 geboren.

Als Dickens seinen berühmten Roman "Oliver Twist" (1837) schrieb, wusste er, wovon er sprach. Schließlich hatte er selbst als Zwölfjähriger in einer Fabrik für Schuhwichse und Ofenschwärze zwölf Stunden täglich Büchsen mit Etiketten beklebt und verpackt, um den Unterhalt für seine Familie zu sichern. Sein Vater, ein Büroangestellter der Navy, saß derweil im Schuldgefängnis, weil er seine acht Kinder nicht mehr ernähren konnte. Vorbei war damit "die goldene Zeit meiner Kindheit", wie der Autor später seine ersten Jahre an der Küste nannte.

Im Londoner Stadtteil Camden Town lernte er die Leidensgefährten kennen, die später seine Romane bevölkerten: Sie kamen aus der Gosse wie die kleinen Taschendiebe des Hehlers Fagin in "Oliver Twist". Sie arbeiteten in den Fabriken der frühen industriellen Revolution wie David Copperfield, Titelheld des gleichnamigen Bildungsromans (1849), in dem Dickens seine Jugend verarbeitete. Oder sie befreiten Verbrecher von ihren Ketten und stiegen später in die versnobte Oberschicht auf, wie Pip in "Große Erwartungen" (1860).

Auf den Londoner Straßen traf der Schriftsteller auch jene bizarren, von ihm bis zur Karikatur verzerrten Typen, mit denen er 1834 seine schriftstellerische Karriere begann: "Chargen" nannte sie später sein boshafter Kritiker Henry James. Oft wandelte Dickens zu nächtlicher Stunde durch die dunkle Stadt. Am Morgen war er trotzdem früh wach und setzte sich zu festgelegten Zeiten an den Schreibtisch. Dort beantwortete er erst wichtige Briefe, bevor er an seinen Geschichten schrieb. Geräusche, wie sie etwa von dem lauten Verkehr und den Straßenmusikern an in sein Zimmer drangen, waren ihm dabei ein Graus.

Kein "Denker"

Nachdem Dickens seinen Herzenswunsch, Schauspieler zu werden, zugunsten der Parlamentsstenographie und des Journalismus aufgegeben hatte, veröffentlichte er zunächst "Sketches by Boz" im "Morning Chronicle": Straßenszenen unter einem Pseudonym, das auf den Kosenamen für seinen kleinen Bruder Augustus zurückging.

Mit den "Pickwickiern", die 1836/37 in monatlichen Heften erschienen, machte sich Dickens einen Namen als Romancier. Mr. Pickwick war der geistige Mittelpunkt eines Klubs. Nachdem Dickens die bodenständige und warmherzige Figur des Sam Weller, Hausknecht bei Pickwick, eingeführt hatte, stieg die Auflage rasch von 400 auf 40 000 Exemplare. Der Mann aus dem Volk eroberte die Herzen der Leser. Den Medizinern unter ihnen fiel eher der schläfrige Joe auf: Nach ihm nannten sie die Schlafapnoe zunächst "Pickwick-Syndrom".

Dickens, bald selbst Mitglied des Garrick Clubs und Herausgeber der liberalen Tageszeitung "Daily News", veröffentlichte nach seinem Erfolg mit "Oliver Twist" von 1943 an jährliche Weihnachtsgeschichten. Am bekanntesten wurde die erste: "A Christmas Carol" mit dem hartherzigen Geizkragen Scrooge, der sich zum Wohltäter wandelt. Dickens wollte seine Zeitgenossen aufrütteln und zur Wohltätigkeit bewegen. Revolutionäre Theorien oder Reformideen hatte er nicht zu bieten: "Ein großer Beobachter und Humorist", schrieb Henry James in einem Verriss, aber kein "Denker".

Ausgedehnte Lesereisen

Berühmtheiten wie der Historiker Thomas Carlyle oder der Herzog von Wellington ließen sich von den sentimentalen Passagen in den Frühwerken rühren. Doch daheim schalt Dickens seine Gattin wegen ihrer ständigen Schwangerschaften, das Ehepaar hatte zehn Kinder. 1858 verließ er Catherine Hogarth nach 22 Jahren Ehe wegen einer jungen Schauspielerin - gab die Trennung von seiner Frau in einer Zeitungsanzeige bekannt - nicht nur damals ein Skandal. In seinen Geschäftsbeziehungen konnte Dickens es mit dem Geizkragen Scrooge aufnehmen: Er bekam nie genug und zerstritt sich reihenweise mit seinen Herausgebern. Zugleich hielt er sich für einen "Unnachahmlichen".

Die Leser ließen ihn in den 1850er Jahren mehr und mehr im Stich. In seinen Romanen "Bleak House" (1852), "Harte Zeiten" (1854) und "Klein Dorrit" (1855) hatte sich die soziale Atmosphäre verdüstert. Um sein Konto zu sanieren, ging Dickens fortan auf Lesereisen. 1865 überlebte er körperlich unversehrt ein Eisenbahnunglück, das ihn als posttraumatische Belastungsstörung nie mehr losließ. Immerhin konnte er noch sein Manuskript "Unser gemeinsamer Freund" aus dem Waggon retten.

Dickens letztes Werk "Das Geheimnis des Edwin Drood" blieb unvollendet. Am 9. Juni 1870 erlitt er im Speisezimmer seines Landsitzes Gad's Hill Place in Rochester einen Schlaganfall. Forscher bemühen sich seitdem, die kriminalistische Schauergeschichte zu Ende zu schreiben. Seine letzte Ruhe hat Dickens in der Londoner Westminster Abbey gefunden, gegenüber einer Gedenkstatue für Großbritanniens andere literarische Lichtgestalt - Shakespeare.

Sein Land möge ihn durch seine veröffentlichten Werke in Erinnerung behalten, schrieb Dickens in seinem Testament. Aber sein Ruhm verblasste. Der moderne Roman mit seinen inneren Monologen löste den bürgerlich-realistischen Sittenroman ab. Doch um 1940 wendete sich das Blatt. Der Film hatte "Oliver Twist" schon 1922 entdeckt. In den 30er und 40er Jahren eroberten die skurrilen Figuren der Dickens-Romane die Leinwand. Mehr als 300 Filmadaptionen seiner Werke sind es bis heute. Oscar-Preisträger Alec Guinness wurde in den Rollen des Fagin und Scrooge zum Dickens-Vorkämpfer. 2005 verfilmte Roman Polanski den "Oliver Twist" erneut - und bewies, dass Charles Dickens lebt.

Bis heute finden die Geschichten des englische Autor ein weltweites Lesepublikum. Sein 200. Geburtstag wird daher 2012 auch international begangen -mit Literaturfestivals, Lesungen und Konferenzen. In Großbritannien selbst ist ein regelrechtes Dickens-Fieber ausgebrochen mit Neuverfilmungen, Ausstellungen, Theaterstücken aber auch Stadtrundgängen durch das historische London auf den Spuren von Oliver Twist und David Copperfield.

Neue Bücher

Hans-Dieter Gelferts Biografie "Charles Dickens - Der Unnachahmliche" (Verlag C. H. Beck) hat sich zum Ziel gesetzt, deutschsprachigen Lesern Dickens' Bedeutung für die Weltliteratur nahezubringen.
In "Unser Vater Charles Dickens" berichten die Kinder Mary und Charlie über ihr Leben mit dem berühmten Vater (Aufbau Verlag).

"Große Erwartungen": Melanie Walz hat den Klassiker neu übersetzt und mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen (Hanser Verlag).

Im Insel-Verlag erscheinen vier Titel zum Jubiläum in neuen Vintage-Umschlägen: "Große Erwartungen", "Oliver Twist", "Der Raritätenladen" und "Eine Geschichte von zwei Städten".

Dickens war nicht nur Romancier, sondern verfasste auch Essays und arbeitete als Journalist. Einige seiner Texte erscheinen in dem Band "Reisender ohne Gewerbe - Nachtstücke" erstmals auf Deutsch (Verlag C.H.Beck) dpa