Am Donnerstag gedenkt die Literaturwelt des 175. Todestages von Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832). Das Interesse an dem universellen Geist und Staatsmann ist bis heute ungebrochen. Alleine rund 170 000 Besucher kommen jährlich ins Goethe-Haus am Weimarer Frauenplan. Wir sprachen mit Jochen Golz, dem Präsidenten der Goethe-Gesellschaft in Weimar.

Herr Golz, wie aktuell ist Goethe heute?

Golz: Eine Dichtung wie der „Faust“ hat einen guten Teil Modernität auch für unsere Zeit. Das Moderne am „Faust“ ist seine Art und Weise, brutal-zerstörerisch mit der Tradition umzugehen. Oder ein anderes Beispiel: Goethes „West-östlicher Divan“. Es ist kein Zufall, dass gerade in jüngerer Zeit dieses Gedichtbuch so aktuell geworden ist. Goethe hat damals schon verfochten, dass man die Geschichte des anderen kennen muss, um ihn zu verstehen. Das gilt auch für die heutigen Konflikte im Nahen und Mittleren Osten. Ein drittes Beispiel ist Goethes Bild von der Natur: Dass Umweltproblematik im Grunde Menschenproblematik ist, kann man schon bei Goethe lernen. Ich will ihn nicht zum Guru der Gegenwart machen. Aber Denkanstöße und Impulse kann man bei ihm bekommen.

Was glauben Sie: Ist Goethe den Menschen heute präsent genug?

Golz: Ich würde sagen, längst nicht genug. Man muss zusehen, dass man seine Gedanken in möglichst viele Köpfe hineinbringt. Dazu gehört nicht immer eine akademische Bildung. Man kann sich auch für Goethe interessieren, ohne zehn Semester studiert oder ein glänzendes Abitur gemacht zu haben. Man kann sich mit den Texten auch so beschäftigen und wird geistigen Gewinn erlangen.

Wird Goethe in der Schule ausreichend gelesen?

Golz: Das ist von Bundesland zu Bundesland verschieden. Uns erreichen immer wieder Klagen von Studienräten, die sagen, viel zu wenig. Ich glaube, dass man etwas mehr Klassik in der Schule behandeln könnte.

Welches Werk sollte jeder unbedingt gelesen haben und warum?

Golz: Den „Faust“ sollte man auf jeden Fall mal auf der Bühne gesehen haben. Man sollte ihn auch gelesen haben und zwar beide Teile. Und man sollte einen Kernbestand von Gedichten gelesen haben. Das wäre eigentlich notwendig für einen gebildeten Menschen, wenn ich dieses altmodische Wort mal gebrauchen darf. Wer dann noch in der Lage ist, einen Roman zu lesen wie „Die Wahlverwandtschaften“, den vielleicht modernsten Ehe-Roman, der hat schon einen guten Fundus.

Gibt es den typischen glühenden Goethe-Verehrer?

Golz: Ja, die gibt es immer wieder, ohne dass ich mich auf Alter und Geschlecht festlegen will. Es gibt in unserer Gesellschaft eine Menge Leute, die Goethe geistig verarbeiten können, viele hochgebildete Menschen, die ihr eigenes Goethe-Bild haben – da steckt viel eigene Beobachtung und Klugheit hinter.

Mit Blick auf die Ergebnisse der PISA-Studien: Sind Schüler überhaupt noch in der Lage, Goethe zu lesen?

Golz: Ich will es hoffen. Ich bin jetzt kein Spezialist für Schulprobleme. Aber welche Aufgaben auch immer auf die Schulen zukommen: Die Schüler müssen die Schule verlassen mit einem Respekt vor Literatur. Sie sollen ein Bewusstsein dafür haben, dass Literatur etwas Wichtiges ist für ihr Leben.

Welche Bedeutung hat Goethe heute im Ausland?

Golz: Pauschal kann man sagen, in Osteuropa mehr als in Westeuropa. In Polen, Tschechien, dem Baltikum und Russland hat man noch ein anderes Verhältnis zur Literatur. Dort ist Literatur noch in stärkerem Maße direkte Lebenshilfe. Die Russen verehren ihre klassischen Dichter. Die legen unaufgefordert Blumen an Gräbern nieder. Und Goethe ist für sie die Nummer eins unter den Dichtern.

Und wie ist es um Goethe in Asien oder Lateinamerika bestellt?

Golz: China hat eine Goethe-Gesellschaft, Indien, Südkorea, Japan auch. Es gibt dort ein wissenschaftliches und ein begrenztes, allgemeines Interesse. „Faust“ im Theater in Thailand ist aber schon ein Problem, das wird nie ein Renner werden.

INTERVIEW: NADINE EMMERICH

Am 22. März findet um 9 Uhr an der Fürstengruft in Weimar eine Kranzniederlegung statt. Unter dem Motto „Goethe – Ein Idealtyp von Kreativität?“ gibt es um 13. Uhr eine Führung durch Goethes Wohnhaus am Frauenplan.