Jede Liebe braucht ein Etikett. Es ist nur manches origineller als das andere. Für die Liebe von Basil Schlupp - Dichter, wohlbekannt - und Frau Professor Maja Schneilin - Theologin, hoch verehrt - kann kein Allerwelts-Etikett gelten wie groß oder leidenschaftlich. Das ist ihre Liebe zwar auch, mehr aber noch ist sie eine Unmöglichkeit. Beide sind um die 60, seit Jahrzehnten verheiratet, glücklich mit ihren Partnern, als sie bei einem Empfang des Bundespräsidenten in Schloss Bellevue am selben Tisch platziert werden.

Mehr passiert nicht. Kein Händedruck, kein Gespräch, noch nicht einmal verstohlen erwiderte Blicke. Und doch passiert so viel in dem neuen Roman von Martin Walser. "Das dreizehnte Kapitel" erzählt von einer Beziehung, die auf Körperlichkeit verzichten muss. Deren Protagonisten unter den fehlenden Berührungen aber nicht leiden, sondern einen intellektuell reizvollen Ersatz im Austausch von Worten finden. Geschrieben mit Tinte auf Papier, ohne die klackernde Krücke der Tastatur. Ihre Briefe - beinahe schon verrucht altmodisch.

Es ist nicht die Mai-November-Liaison, um die Walsers Spätwerk in den vergangenen Jahren verdächtig oft kreiste. Kein Busenschlamassel wie "Angstblüte", keine Peinlichkeiten wie im Goethe-Roman "Ein liebender Mann". Vielmehr eine Altersliebe unter gleichen Vorzeichen. Durch das Schreiben machen die beiden die Unmöglichkeit ihrer Liebe möglich. Sie schreiben Buchstabenketten als Hängebrücken über dem Abgrund namens Wirklichkeit, heißt es in dem Buch.

Der Dichter und die Theologin machen sich Geständnisse, die Kommentare provozieren. Stets unter dem Vorsatz, genau dies nicht zu wollen. Sie offenbart ihre Verehrung für den Theologen Karl Barth, er interpretiert die Beischlaf-Statistik mit seiner Frau Iris. Was anfangs als wortgewandte Spielerei zweier Gebildeter anmutet, weicht allmählich einer subtilen Erotik, die sich nirgends sonst so deutlich zeigt wie in der Grußformel - "Ihr heute Ausgelieferter", "Ihr vom Glück Gestreifter", "Dein von Dir Lebender".

Dass solche Nähe allein mit Worten, folglich allein durch Kommunikation entstehen kann, das ist das eigentliche Ereignis in einer Zeit, wo über das Dauerrauschen der Nachrichten so gerne lamentiert wird. Da stört es auch nicht, dass die Liebenden irgendwann den papiernen gegen den elektronischen Brief tauschen und dadurch in die kurze Form wechseln. Ihre Briefe bleiben auch ohne Handschrift vollendet.

Ob sie die Unmöglichkeit am Ende gewagt hätten, bleibt offen. Korbinian, Majas Mann, erkrankt schwer. Der nahende Tod lässt die Briefeschreiberin schließlich verstummen, der süße, köperlose Verrat an ihrem Partner endet. Die Worte Basil Schlupps stürzen, von der anderen Seite nicht mehr empfangen, in den Abgrund namens Wirklichkeit. Das Briefabenteuer ist vorüber.

Religiöse Querverweise

Nach "Muttersohn", einem einzigen Kokettieren mit dem Nicht-Verstanden-Werden aus dem Sommer 2011, hat der 85-Jährige mit "Das dreizehnte Kapitel" noch einmal seine literarische Vitalität untermauert. Zwar mit den Walser-Lesern so vertrauten Motiven, dem konkurrierenden Männerpaar, den religiösen Querverweisen. Aber berührend wie schon lange nicht. Und hoffnungsfroh. Das Worte eine Wirkung haben. Und Kommunikation das Unmögliche wagen darf.

Martin Walser: "Das dreizehnte Kapitel", Rowohlt, 2012 - 19,95 Euro.