Fensterbänke werden immer zuerst in Beschlag genommen. So ist es auch an diesem Abend bei "Kellari" - einem Griechen schräg gegenüber des neuen Einkauf-Centers am Leipziger Brühl mit der alten Aluminiumfassade der "Bemmenbüchse". Der erste Buchmesse-Abend zieht die Leute in die Stadt. Überall wird vorgelesen. In Geschäften, in Kirchen und in Kneipen. Auch Landolf Scherzer soll vorlesen. Das Buch mit seinen Griechenland-Erlebnissen Reportagen lag am Messestand des Berliner "Aufbau"-Verlags schon den ganzen Tag zum Schmökern aus. Doch viel schöner ist es, wenn vorgelesen wird.

Um halb sieben sind bei "Kellari" am nur noch schlechte Plätze frei. Der Chef des Restaurants, ein älterer Grieche mit weinrotem Hemd und einem beachtlichem Bauchumfang, schleppt weitere Stühle heran. "Sonst kommen mal zwanzig Leute zur Lesung, aber heute . . " Hinter den Raumteilern aus millimetergenau ausgerichteten leeren Weinflaschen wird man Landolf Scherzer zwar nicht sehen, aber hören können, hoffen die später Erschienenen. Der Autor selbst schlurft, wie immer im blauen Pullover, noch ein wenig ratlos an der Theke vorbei. "Ich weiß nicht, was ich lesen soll", sagt er. Eine halbe Stunde später bestellt er sich ein Glas Rotwein, stellt sich einfach zwischen die Tische und beginnt zu erzählen.

Bilder im Kopf

Zweimal ist Landolf Scherzer letztes Jahr nach Griechenland geflogen. Einmal in den "Oceania Club" in Nea Moudania, 70 Kilometer südöstlich von Thessaloniki. Und einmal nach Thessaloniki selbst. Einmal Ferienparadies am Strand, einmal das schlichte Hotel "Europa" in der Altstadt. Doch seine Erlebnisse hat er diesmal nicht - wie in manch anderem seiner Bücher - in Kapitel gegliedert. Griechenland lässt sich nicht filetieren. Auch nicht literarisch. Weder die Geschichten der Menschen, die er getroffen hat, noch seine Eindrücke vom Land unter dem Olymp stehen für sich. Seine beiden Griechenland-Reisen sind zu einem einzigen Abenteuer verschmolzen: Eine 320 Seiten lange Momentaufnahme aus einer anderen Welt.

Im Leipziger "Kellari" schmückt Scherzer sie am Donnerstagabend aus. Doch das ist gar nicht nötig. Wer liest, dem beschert der Text Bilder im Kopf, wie sie Fernsehkasten oder Zeitung kaum liefern können. Aus dem Text schält sich ein unbekanntes Griechenland heraus, weil in ihm die Menschen selbst zu Wort kommen: Weil kein eiliger Journalist über sie berichtet. Scherzer hatte sich mit Rucksack, Latschen und Notizbuch unters Volk gemischt - so wie er es immer tut: als geduldiger und aufmerksamer Reporter.

Unpolitisch waren die Reportagen des Suhler Schriftstellers nie. Und doch ist "Stürzt die Götter vom Olymp" zu einem politischen Buch geworden. Scherzer hatte sich nicht nur ein Thema vorgegeben, er hatte auch ein klares Ziel: Er wollte aufschreiben, was die Finanzkrise aus den einfachen Menschen macht. Und seine noch in Deutschland formulierte Vermutung bestätigte sich: Nichts Gutes! Immer wieder lässt er die Menschen, denen er begegnet, über die Krise sprechen. Immer wieder notiert er, mit welchem Einkommen sie sich durchschlagen müssen. Schreibt auf, was im Gegenzug Butter und Milch kosten. Während deutsche Fernsehnachrichten vom Besuch der "Troika" berichten, lauscht Scherzer den Sorgen der Putzfrau Christina. Sie macht im sozialen Ärztezentrum einmal die Woche sauber. Als er sie fotografieren will, zieht sie verschämt den weißen Kittel aus. Sie ist doch nur Putzfrau.

Aus solchen Begebenheiten entsteht ein bedrückendes Kaleidoskop des sozialen Abstiegs, das sich manchmal wie eine böse Vorahnung auf das liest, was auch hierzulande Wirklichkeit werden könnte: Wenn die Gesellschaft - demokratisch und freiheitlich - den Menschen die Würde nimmt. Scherzer schreibt das böse Wort nicht, aber es schwingt mit, auf vielen Seiten des Buches: Kapitalismus. In Griechenland hat er seinen schönen Schein verloren.

Mit Ironie notiert

Faule Griechen, die nichts zustande bringen, in der Sonne herumliegen und Deutschland beschimpfen - solchen Vorurteilen ist Landolf Scherzer während seines "All-inclusive"-Urlaubs immer wieder begegnet. Mit Ironie notiert er, was ihm deutsche Touristen freimütig erzählen. Und manches ist wohl auch nur mit Ironie zu formulieren. Etwa, wenn das Schönste an einer Überland-Busfahrt für Pauschaltouristen nicht etwa Land und Leute sind, sondern der Umstand, dass sie im Mercedes-Bus stattfindet.

Doch schnell richtet Scherzer seinen Blick hinter die hübschen Fassaden des amüsant beschriebenen Treibens im Urlaubsparadies. Eine Freundin, die Literaturprofessorin Katerina, "die raucht wie eine russische Proletarierin", hilft ihm dabei. Scherzer verschweigt nicht, dass ihm Griechenland oft als hässliches Land entgegen tritt. Stümperei, Pfusch, Bereicherung, Korruption - auch das klingt an. So vielschichtig ist dieser Text. Man kann diesem literarischen Griechenland-Bild vertrauen. Und man mag Landolf Scherzer verzeihen, wenn er Land und Leute an der ein oder anderen Stelle mit seiner Liebe fast erdrückt. Doch seine Leidenschaft tut gut - wo Medienbilder nicht mehr so genau hinschauen.

Landolf Scherzer: "Stürzt die Götter vom Olymp. Das andere Griechenland" - erschienen 2014 im Aufbau Verlag, 19,99 Euro. Der Autor stellt sein Buch am 1. April um 19.30 Uhr in der Stadt- und Kreisbibliothek "Anna Seghers" in Meiningen vor.