Bad Salzungen - "Scherbenweg" heißt das Buch, aus dem Jana Henn und Petra Notroff vom Weißen Ring abwechselnd lesen. Beide haben die Verfasserinnen des Buches - Charlie und Su - begleitet auf dem Weg über Scherben, dem Weg zu einem normalen Leben; wohlwissend, dass sie die Vergangenheit nicht abstreifen können wie die Schlange ihre alte Haut. Charlie und Su sind als Kinder sexuell missbraucht worden.

Zu den bewegenden Texten der beiden Frauen hat die befreundete Malerin Gabi Schien aus Schmalkalden Bilder gemalt. Als nur mittelbar Betroffene hat sie in den Bildern ihr Entsetzen über die erfahrene Gewalt an Kindern ausgedrückt.

"Es soll keine Anklageschrift sein, die Texte bedienen sich nicht der gängigen Klischees böser Täter gegen armes Opfer", erklärt Jana Henn zu Beginn der Lesung. Vielmehr haben die beiden Frauen einen Weg gesucht, das Grausame, Unfassbare für sich zu verarbeiten. Mit kleinen Geschichten, mit inneren Zwiegesprächen, Tagebucheinträgen, Gedichten.

Das Erlittene der Kindheit prägt die Missbrauchten bis heute, da sie gestandene und selbstbewusste Frauen sind. Den Scherbenweg zu gehen, war mitunter nur mit Hilfe und Therapien möglich. "Es gibt noch zu viele, die diesen Scherbenweg alleine gehen müssen", wissen die Mitarbeiter der Opferbetreuung vom Weißen Ring.

Die Vergangenheit holt sie manchmal ein, überraschend, gewaltig, übermächtig. Su beispielsweise beschreibt solche "Flashbacks" als riesige Welle, die sie überrollt, verschlingt und in die furchtbare
Vergangenheit zurückschleudert, bis sie nach schrecklichen Augenblicken wieder auftaucht in der Gegenwart.

Charlie bezeichnet ihren Lebensweg in einem Text als Falschfahrer auf der Lebensautobahn, die richtige Richtung suchend, an den Leitplanken und Lebensplänen aneckend, empfunden als Belastung und Störenfried. Doch wie langweilig ist es, wenn alle in die gleiche Richtung fahren, fragt sie. Sollte man die Falschfahrer nicht als Chance verstehen? Und: Wie soll man leben, wenn das Leben schon endete, als es begann?

Sehr bewegend ist das Zwiegespräch des kleinen und des großen Mädchens, das deutlich die innere Zerrissenheit, die Verzweiflung und Unsicherheit eines missbrauchten Kindes deutlich macht.

Mit einem emotionalen Lied - "Kinderaugen" von Liedermacher Peter Ruprecht - endete die Lesung. "Kinderherzen, zerbrechlich wie Glas; Kinderaugen, wem macht so was wohl Spaß? Kinderseelen, im warmen Bett erfroren. Oh Mami, warum hast du mich geboren?", heißt es im Refrain des Liedes.

Es ist ein Thema, das erst einmal sprachlos macht. Die Sprachlosigkeit und Angst der Kinder nutzen auch die Täter. Immerhin sei jedes 7. bis 9. Mädchen und jeder 10. bis 15. Junge von sexueller Gewalt betroffen. "Nicht alle landen in den Beratungsstellen", weiß Petra Notroff.

Doch es werden immer mehr, weil die Vernetzung von Beratung und Hilfen immer besser wird. Aus dem Tabu-Thema ist nach und nach ein öffentliches Thema geworden. In Thüringen gibt es beispielsweise ein ausgebautes Netz des Kinderschutzdienstes in den Landkreisen, es gibt Hilfefonds, den Weißen Ring.

"Die Zeit heilt alle Wunden", heißt es mitunter. Bei sexuellem Missbrauch gilt dieser Spruch nicht, weiß Petra Notroff aus vielen Gesprächen mit Betroffenen. Je länger man es mit sich herumträgt, umso größer und schmerzhafter werden die Wunden. Viele kommen erst als Erwachsene und suchen Hilfe, "manchmal sitzen Frauen zwischen und 40 und 70 Jahren bei mir." Sexualdelikte sind immer noch die Hauptdelikte beim Weißen Ring. sir

Das Buch "Scherbenweg" ist erschienen im Engelsdorfer Verlag Leipzig. Es kostet 12,90 Euro.

Kontakt

Bundesweites Telefon "Gewalt gegen Frauen": 08000 116 016

Weißer Ring Wartburgkreis/Eisenach: 0151/55164608

Kinderschutzdienst Bad Salzungen: 03695/852012