Bad Salzungen - Auf den Frauentag wollte das Lesecafé in der Bad Salzunger Stadt- und Kreisbibliothek einstimmen. Nach der Autoren-Lesung mit Grit Poppe aus ihrem Buch "Abgehauen" ist niemandem mehr nach Feiern zumute. Erst recht nicht, wenn die Worte der Zeitzeugin aus dem Geschlossenen Jugendwerkhof der DDR in Torgau, Kathrin Begoin, nachklingen: "Du wirst dort geprägt, lebenslang verändert. Dir wird dein lebenswürdiges Leben genommen. Du bist nur noch Dreck."

Vierzehn Jahre lang hat Kathrin Begoin aus Saalfeld geschwiegen. Dann erzählte sie Grit Poppe ihre Geschichte. Eine Geschichte, die einen anderen Menschen aus ihr gemacht hat, einen ohne Würde. "Kein Mensch mehr, sondern ein Irgendwas", wie es Grit Poppe in ihrem Jugendroman "Abgehauen" beschreibt. Im Roman heißt das Mädchen, das ein Martyrium durch DDR-Kinderheime, Werkhöfe und schließlich den Geschlossenen Jugendwerkhof in Torgau durchlebt, Gonzo. Gonzo ist eine Rebellin. Eine, die nicht in das "System Sozialismus" passt. Eine, die umerzogen werden soll.

Gonzos Geschichte basiert auf Zeitzeugen-Interviews und historischen Tatsachen. Die Akten aus dem DDR-Kinderknast in Torgau sind fast vollständig erhalten. Jeder, der Interesse an dem Thema hat, kann heute darin lesen. Kann nachvollziehen, was den "schwererziehbaren", den "asozialen", den "aufmüpfigen" Kindern und Jugendlichen angetan wurde. Das Torgauer System war so perfide, dass "die ihre Verbrechen sogar kleinlichst dokumentiert haben", erzählt die Autorin.

Für ihren Vorgänger-Roman "Weggesperrt" aus dem Jahr 2009, der sich auch dem Willkürapparat in den DDR-Jugendwerkhöfen widmet, wurde Grit Poppe mit dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis ausgezeichnet. In Baden-Württemberg gehörte "Weggesperrt" bereits 2010 zum Prüfungsstoff an den Realschulen. "Mein Roman wurde da flächendeckend gelesen und der Stoff sehr tiefgründig aufgegriffen", sagt Grit Poppe. In den neuen Bundesländern, auch in Thüringen, gebe es nur vereinzelt Lehrer, die das Buch behandeln, weiß die Autorin.

Von den 32 Jugendwerkhöfen, die es in der DDR gab, war Torgau eine einmalige Sonderform. "Schwererziehbare" Jugendliche im Alter von 14 bis 18 Jahren sollten innerhalb nur weniger Monate unter haftähnlichen Bedingungen zu "sozialistischen Persönlichkeiten" umerzogen werden. Mit körperlich anstrengender Arbeit, striktem Redeverbot, Drillsport, harten Sanktionen und mit dem Wegsperren in den Einzelarrest in eine Dunkelzelle im Keller. Der Werkhof in Torgau war ein Gebäude, das 1901 als Militärarrestanstalt erbaut wurde, später der Gestapo, der Sowjetjustiz und dann der Ministerin für Volksbildung, Margot Honecker, als Geschlossene Jugendstrafanstalt diente. Mit dem Mauerfall ließ das DDR-Regime eilig die Gitter vor den Fenstern entfernen. Der Werkhofdirektor erlebte das nicht mehr. Er soll am Tag der Mauerfalls verstorben sein. "Wir Ehemaligen vermuten eher, der hat seinem Leben selbst ein Ende gesetzt, denn der wusste ja, was er getan hat", meint Kathrin Begoin. Sie ist heute 45 Jahre alt und lebt inzwischen auf einem Bauernhof im Weimarer Land.

Mit 16 kam Kathrin Begoin nach Torgau. Zuerst wurden ihr die Kleidung, dann ihre hüftlangen Haare und zuletzt ihre Würde genommen. Als ihr der millimeterkurze Igelschnitt verpasst wurde, weinte sie keine Träne. "Ich habe mich so zusammengerissen und wollte denen nicht noch die Genugtuung geben, dass ich weine." Die Tränen kamen abends auf der Holzpritsche in der Sechs-Quadratmeter-Zelle. Heute singt sie über ihr Schicksal. "Tränen in der Nacht" ist eines ihrer Lieder, bei dem auch das Publikum zu Tränen gerührt ist. Wenn am Liedende in anderen Konzerten applaudiert wird, bleibt es bei Kathrin Begoin still. Beklemmend still. Wie beim Lesen von Grit Poppes Roman "Abgehauen". Die Einblicke, die sie vermittelt, bewegen und schockieren.

Im Salzunger Lesecafé stießen Grit Poppe und Kathrin Begoin auf ein kleines, dafür aber aufgeschlossenes Publikum. Eine Besucherin berichtete von ihren eigenen Begegnungen mit der Staatssicherheit in Leipzig, von zwei jeweils achtstündigen Verhören: "Da wirst du ohnmächtig dabei". Eine andere Besucherin kann es nicht fassen, welche Grausamkeiten in Torgau an der Tagesordnung waren. Und eine Mutter aus Bad Salzungen berichtet von ihrem Sohn, ihrem "sehr kreativen, den Unterricht oft störenden", weil hyperaktiven, Jungen. Heute ist er 45 und lebt in der Schweiz. Seine Briefe aus der Zeit im Jugendwerkhof in Wittenberg und aus Torgau habe sie "nach langer Zeit am Stück gelesen". Kathrin Begoin fordert die Frau auf, ihren Sohn zu ermutigen, sich für den Hilfsfonds für die Entschädigung ehemaliger DDR-Heimkinder zu melden. Der Fonds wurde jetzt aufgestockt: Laut Bundesfamilienministerium sollen insgesamt rund 200 Millionen Euro ausgezahlt werden. 3500 Anträge seien bereits genehmigt, 10 000 noch in Bearbeitung. Die Antragsfrist endet bereits am 30. September dieses Jahres. Nach Schätzungen soll es 400 000 Heimkinder in der DDR gegeben haben.

Eine andere Besucherin des Lesecafés fragt in die Runde, wo denn die jungen Menschen seien, die vielen Lehrer, die hier an den Schulen unterrichten, die ganzen Pädagogen und Erzieher? Auch Bibliotheksleiterin Peggy Schmidt scheint etwas enttäuscht, dass Stühle leergeblieben sind. Statt roter Rosen wie zum Frauentags-Lesecafé im Vorjahr gab es diesmal ein sperriges, beklemmendes und trauriges Kapitel jüngster deutscher Geschichte. Und dem blieben die Bad Salzunger fern.

Lesen Sie auch das Interview mit der Autorin: "Es gab nur ein Ziel: Deinen Willen brechen"

Buch-Tipp

Grit Poppe "Abgehauen" (2012) und "Weggesperrt" (2009), erschienen im Dressler Verlag. Beide Bücher können auch in der Stadt- und Kreisbibliothek Bad Salzungen entliehen werden. Es kann aufgrund hoher Nachfrage zu Wartezeiten kommen.