Geisa/Rasdorf - Es waren verhältnismäßig wenige, doch es gab sie: Menschen, die aus der Bundesrepublik in die DDR flüchteten. "Sie wurden in Übergangsheimen untergebracht und von der Stasi gecheckt. Sie hatten keine freie Wahl über Wohnort und berufliche Tätigkeit. Manch einer hat sich das dann noch mal überlegt", erzählte Dr. Henning Pietzsch, Vize-Direktor der Point Alpha Stiftung, als er am Mittwoch in der Gedenkstätte zur Lesung begrüßte. Im Mittelpunkt des gemeinsam mit der Thüringer Landeszentrale für politische Bildung veranstalteten Abends stand Peter Köpfs Buch "Wo ist Lieutenant Adkins?". Er erzählt darin die Geschichten von NATO-Soldaten, welche in die DDR desertierten.

200 bekannte Fälle

Peter Köpf, gebürtiger Schwabe, studierte Politik und Kommunikationswissenschaften. Als freier Autor und Journalist tätig, lebt er in Berlin. "Bei uns im Westen gibt es ein Bild, in welche Richtung Soldaten fliehen", beschrieb er das weltbekannte Foto, welches die Flucht des NVA-Soldaten Conrad Schumann am 15. August 1961 von der Bernauer Straße nach Westberlin zeigt. "Die Fluchten gingen von Ost nach West, dass es auch welche in die andere Richtung gab, wurde weitgehend ausgeblendet. Conrad Schumann hatte aber Gegenverkehr", erzählte er. Allein im Zeitraum vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis 1961, welchen er betrachtete, fand Köpf Material über rund 200 NATO-Soldaten aus den USA, Frankreich, Belgien und anderen Ländern, die in Richtung Osten flohen. In der New York Times hatte er eine Meldung gefunden über den schwarzen US-Soldaten Charles Lucas, der in die DDR geflohen war und erklärte, für schwarze US-Soldaten sei es besser, im Osten zu leben, weil sie dort nicht benachteiligt würden. Peter Köpf fragte beim Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen an, bekam von dort nach mehreren Monaten umfangreiches Archivmaterial. Er stieß auf weitere Fälle, auch weißer und westeuropäischer Soldaten, erhielt wiederum Material. Zudem recherchierte er im Bundesarchiv und in amerikanischen Unterlagen.

In drei Kategorien stufte der Autor die Deserteure ein. Eine relativ kleine Gruppe floh aus politischen Gründen, zum Beispiel Richard Warren Coffman, der am 8. Oktober 1954 politisches Asyl in der DDR beantragte. Er gab eine Erklärung ab, in welcher er die USA als Verbrecherstaat darstellte und begründete, warum er Kommunist geworden sei. Schwarze amerikanische Soldaten stellen die zweite Kategorie dar. "Für sie war in den 1950er Jahren Deutschland (auch Westdeutschland) ein Wunder. Sie erlebten hier größere Freiheit als in weiten Teilen der USA, konnten sich hier frei bewegen, in Restaurants gehen und mit weißen Frauen ausgehen, was in den USA kaum möglich war", beschrieb Peter Köpf. Die dritte, relativ große Gruppe waren Abenteurer, Leichtsinnige und Straffällige, die vor drohenden Militärgerichtsverfahren flohen.

In letztere Kategorie ordnete der Autor den 28-jährigen US-Soldaten William Smallwood ein, der am 22. Mai 1954 bei Rasdorf die Grenze in Richtung Geisa überschritt. Der in Fulda stationierte GI hatte am Abend zuvor mit Vorgesetzten getrunken und gestritten. Am Morgen danach trank er in Hünfeld weiter und erklärte, dass er in den Osten gehen werde. Wenig später war Smallwood stark alkoholisiert im Grenzgebiet bei Rasdorf unterwegs - die Grenze war damals noch nicht so hermetisch abgeriegelt - und wurde von DDR-Grenzern aufgegriffen. Sie brachten ihn in einem "stinkenden Plastikauto" zur nächsten sowjetischen Kaserne. Von dort fuhr ihn ein Sanitätsauto nach Ost-Berlin zum "Haus am See", eine als Krankenhaus getarnte Stasi-Verhöreinrichtung am Müggelsee. "Vor dem Haus begrüßte ihn ein Deutscher, der sich als Dr. Huber vorstellte. Das Wachpersonal behandelte ihn nicht unfreundlich, aber reserviert. Er durfte baden, musste seine Uniform abgeben und erhielt neue Kleidung", erzählte Peter Köpf. Hinter dem Tarnnamen "Dr. Huber" verbarg sich der Stasi-Mitarbeiter Karl Schenk, welcher alle NATO-Deserteure befragte, bevor über deren weiteres Schicksal entschieden wurde.

William Smallwood musste über seine Kaserne und die Vorgesetzten, aber auch das Leben in den USA berichten. Viele Fragen konnte er nicht beantworten, wo er konnte, gab er aber bereitwillig Auskunft.

Smallwood wollte eigentlich in den Westen zurückkehren. "Er wusste, je länger er fernblieb, um so schwerer konnte er seinen Fehltritt erklären." Ende Juni brachte Schenk ihn nach Bautzen. In einer alten Villa waren die Deserteure untergebracht. Dort wurde für sie gesorgt. Sie erhielten Unterricht in Deutsch, Mathe und über die "Grundlagen des Sozialismus", mit dem Ziel, sie zu guten Facharbeitern und Staatsbürgern zu erziehen. "Bautzen bot allen, die nach der Filtration dort landeten, eine Chance", so Köpf. Die Deserteure wurden als "Freunde" bezeichnet, trotzdem argwöhnisch überwacht. Den Landkreis durften sie nicht verlassen.

"Nicht alle Deserteure fanden es in der DDR so toll, wie sie erwartet hatten und wollten zurück", hatte der Autor herausgefunden. Nur rund die Hälfte der 200 ihm bekannten Geflohenen bis 1961 blieben in der DDR, die anderen kehrten zurück, teilweise auf verschlungenen Wegen. Andere kamen ums Leben, wie Richard Warren Coffman, der in einer Bautzener Kneipe mit Einheimischen in Streit geriet, von ihnen zusammengeschlagen und so schwer verletzt wurde, dass er wenige Tage später starb. Die vom US-Sender AFN später verbreitete Nachricht, Coffman sei beim Verhör von der Stasi getötet worden, war falsch, fand Peter Köpf heraus.

Sieben Jahre hinter Gittern

William Smallwood blieb mehr als drei Jahre in der DDR, war davon aber nur 20 Tage in relativer Freiheit. Karl Schenk, der mitbekommen hatte, dass er zurückkehren wollte, inszenierte eine Spionage-Geschichte mit einer Liste von angeblich in der DDR gefangenen und getöteten US-Soldaten - ein Vorwand, um Smallwood zu verurteilen und einzusperren. Nach drei Jahren wurde er in den Westen abgeschoben. Dort kam der GI ebenfalls vor Gericht, weil er desertiert war, und wurde zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. "William Smallwood kam wegen des Fehlers, betrunken die Grenze überquert zu haben, für insgesamt rund sieben Jahre ins Gefängnis", fasste Köpf zusammen.

Die meisten Deserteure hatten niedere Dienstgrade und ein niedriges Bildungsniveau. Lediglich jene, die bewusst aus politischen Gründen die Seite wechselten, waren häufig höher gebildet, ergaben die Recherchen. In den Akten fand der Autor einige Hinweise, dass es auch nach dem Mauerbau 1961 Deserteure gab. "Das wäre vielleicht eine gute Aufgabe für Doktoranden, noch mal ins Archiv zu steigen. Da sind noch einige Geschichten rauszuholen", sagte Peter Köpf. sach