Eigener Inhalt Woodstock in Wittenberg

Klaus Grimberg

Fünf Tage zwischen Bibel und Begegnung, Gottesdienst und Gaudi, Hosianna und Happening - das ist der Evangelische Kirchentag. Im großen Jubiläumsjahr der Reformation steht das Gedenken an Martin Luther und sein Erbe im Mittelpunkt. Die protestantische Gemeinschaft in aller Welt schaut nach Berlin und Wittenberg - am Mittwoch geht es los.

 
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Es ist so wie immer – und doch ist alles anders. Wenn in der kommenden Woche weit mehr als 100 000 Christen zum 36. Deutschen Evangelischen Kirchentag nach Berlin strömen, dann werden sie in Bibelarbeiten, Podiumsgesprächen, Gottesdiensten und vielen weiteren Veranstaltungen gemeinsam diskutieren, beten und singen. So wie auf allen anderen Kirchentagen zuvor. In diesem Jahr aber steht die Veranstaltung ganz im Zeichen des großen Jubiläums "500 Jahre Reformation". Die Erinnerung an die Veröffentlichung der 95 Thesen, mit denen Martin Luther 1517 die Kirche in ihren Grundfesten zu erschüttern begann, wird diesen Kirchentag prägen – das steht schon vor seinem Beginn fest.

Kirchentage
Evangelische Kirchentage gibt es seit 1949 in Deutschland. Seit den späten 1970er-Jahren haben sie sich zu einer Großveranstaltung entwickelt, zu der alle zwei Jahre mehr als 100 000 Christen in abwechselnde Gastgeberstädte reisen. Die Kirchentage geben den Teilnehmern die Gelegenheit, sich mit aktuellen gesellschaftlichen Themen und Glaubenfragen auseinanderzusetzen und miteinander ins Gespräch zu kommen. Immer wieder gingen von Kirchentagen wichtige Impulse aus, so standen die Kirchtage 1981 und 1983 stark unter dem Einfluss der Nachrüstungsdebatte in der Bundesrepublik. Bereits jetzt steht fest, wo der 37. Deutsche Evangelische Kirchentag 2019 stattfinden wird – in Dortmund.
Weit länger als die Kirchentage existieren die Deutschen Katholikentage, die schon seit 1848 abgehalten werden. Auch sie finden aktuell alle zwei Jahre in verschiedenen Städten statt, zuletzt allerdings mit deutlich weniger Teilnehmern als beim Kirchentag. Der 100. Katholikentag wurde 2016 in Leipzig gefeiert, der 101. ist im kommenden Jahr in Münster geplant. Zweimal gab es bislang einen Ökumenischen Kirchentag, 2003 in Berlin und 2010 in München. Ein dritter ist 2021 in Frankfurt am Main vorgesehen.

Vor allem der Abschlussgottesdienst soll zur großen Feier der Reformation werden, und zwar nicht in Berlin, sondern am Ort des historischen Geschehens – in Wittenberg. Dazu werden Zehntausende evangelische Christen am nächsten Sonntag von Berlin in die rund hundert Kilometer entfernte Lutherstadt an der Elbe reisen. Ein logistischer Kraftakt, für den die Deutsche Bahn im Zehn-Minuten-Takt Shuttle-Züge zwischen den beiden Städten hin- und herfahren lässt. Gleichzeitig treffen an diesem Tag die Teilnehmer der mitteldeutschen "Kirchentage auf dem Weg" (siehe Kasten) in Wittenberg ein. Nicht wie sonst in einem großen Stadion, sondern auf einer riesigen Festwiese an der Elbe wollen alle gemeinsam "Von Angesicht zu Angesicht" – wie es im 1. Korinther-Brief steht – das Abendmahl feiern. "International, bunt, vielsprachig, hoffnungsvoll", so heißt es in der Ankündigung. Klingt nach einem großen evangelischen Happening – Woodstock in Wittenberg.

Dazu passt, dass es im Anschluss an den Gottesdienst ein gigantisches Picknick geben soll unter dem Motto "Seele, Leib und Sinne". Schließlich wusste schon Martin Luther, dass das Leben nicht allein aus Arbeit und Gebet besteht. "Wer nicht liebt Wein, Weiber und Gesang, der bleibt ein Narr sein Leben lang", lautet einer seiner vielzitierten Aussprüche. So folgt auf die leibliche Erquickung sogleich die sinnliche: Bis in den Abend hinein treten auf einer großen Bühne an der Elbe diverse Künstler und Bands auf, darunter "Bell Book & Candle", "CITY" oder Konstantin Wecker. Wem das alles zu viel wird, der kann über eine eigens errichtete Pontonbrücke die Elbe überqueren und sich auf der "Weltausstellung Reformation" tummeln. Rund um die Wittenberger Altstadt gibt es sieben Torräume zu erkunden, zu verschiedenen Themen wie "Globalisierung/Eine Welt", "Ökumene und Religion" oder "Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung" mit ungezählten Angeboten zum Mitreden oder Mitmachen.

Kirchentage auf dem Weg
"Wir wollen so viel bewegen – warum nicht zuerst uns selbst?" Diese Frage ist für Christen in Mitteldeutschland gleichsam als Aufruf zu verstehen. Parallel zum "großen" Kirchentag in Berlin gibt es sechs regionale "Kirchentage auf dem Weg" in acht Städten Thüringens, Sachsens, und Sachsen-Anhalts, nämlich in Erfurt, Jena/Weimar, Leipzig, Magdeburg, Dessau-Roßlau und Halle/Eisleben. In den Kernlanden der Reformation feiern die Städte das historische Ereignis der Thesenveröffentlichung mit eigenen thematischen und kulturellen Schwerpunkten.
Zum Auftakt verbindet an Christi Himmelfahrt ein zeitgleich stattfindender ökumenischer Gottesdienst die Städte der Kirchentage auf dem Weg untereinander und mit dem Kirchentag in Berlin. Am Sonntag sollen dann auch die Teilnehmer der Kirchentage auf dem Weg beim großen Festgottesdienst vor den Toren Wittenbergs eintreffen und sich mit den zehntausenden Christen vereinen, die aus Berlin in die Lutherstadt an der Elbe kommen.
Die Kirchentage auf dem Weg beziehen sich explizit auf die regionalen Kirchentage im Lutherjahr 1983, als auch in der DDR ausführlich an Martin Luthers 500. Geburtstag erinnert wurde. Damals fanden unter der Überschrift "Vertrauen wagen" Kirchentage in Erfurt, Eisleben, Frankfurt (Oder), Magdeburg, Rostock und Wittenberg statt – eine in der DDR einmalige Aktion von evangelischen Christen in verschiedenen Bezirken. Seit 1962 gab es Kirchentage auch in der DDR, die allerdings von Staat und Partei kritisch und misstrauisch beäugt wurden.
Wer sich im Arbeiter- und Bauernstaat offen zu seinem Glauben bekannte, hatte oft mit Einschränkungen, bisweilen mit Repressionen zu rechnen. Die Teilnahme an der Konfirmation anstelle der staatlich gewünschten Jugendweihe hatte meist zur Folge, dass Jugendliche später in ihrem Berufswunsch behindert oder nicht zum Abitur zugelassen wurden. Insofern war auch der Besuch regionaler Kirchtage immer mit dem Wagnis verbunden, dass die Staatssicherheit entsprechende Berichte anfertigte. Wegen dieser politischen Zwänge, aber auch aus logistischen Gründen gab es in DDR nie einen landesweiten Kirchentag.
r2017.org/kirchentage-auf-dem-weg/

Um einen solchen Festtag möglich zu machen und um überhaupt den gesamten Kirchentag realisieren zu können, braucht es ein starkes Organisationsteam. Zusätzlich zum ständigen Büro des Kirchentags in Fulda wurde in jeder Gastgeberstadt eine eigene Geschäftsstelle eingerichtet, so auch in Berlin. In den Wochen und Tagen vor dem Großereignis rotieren die Mitarbeiter dort nahezu rund um die Uhr. Unzählige Fäden laufen hier zusammen: Die Details zu den rund 2500 Veranstaltungen des Programms, die Informationen zu den Unterkünften in der Stadt, die Kontakte zu den Gemeinden, die ihre Unterstützung angeboten haben. Dazu gilt es, all die übergeordneten Fragen zu Verkehr, Ordnungsdiensten oder Verpflegung zu klären, nicht zuletzt wurde ein umfangreiches Sicherheitskonzept erarbeitet.

Denn neben vielen anderen bekannten Rednern und Gesprächspartnern aus Kirche, Politik und Kultur hat sich auch der frühere US-Präsident Barack Obama als Gast des Kirchentags angekündigt. Er wird am Himmelfahrtstag auf einer Bühne am Brandenburger Tor mit Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Thema "Engagiert Demokratie gestalten – Zuhause und in der Welt Verantwortung übernehmen" diskutieren. Viele Kirchentagsbesucher lassen sich von solchen Podien mit prominenten Diskutanten inspirieren, andere hingegen suchen in erster Linie die Begegnung mit Christen wie sie selbst, mit denen sie sich austauschen können. Wieder andere zieht es zu den vielfältigen Kultur- und Musikangeboten, von der Gospelmesse bis zum Orgelkonzert. Ganz gleich, für welche Programmpunkte man sich entscheidet, beim Kirchentag geht es vor allem um das Gemeinschaftsgefühl: "Du siehst mich" lautet das diesjährige Motto aus dem 1. Buch Moses. Übersetzt in die Kirchentagsstimmung bedeutet das: "Niemand soll sich allein fühlen".

Das gilt auch für die Übernachtungen in Berlin. Traditionell kommen die meisten Kirchentagsgäste, vor allem jüngere Besucher, in Klassenräumen von Schulen unter – mit Isomatte und Schlafsack. In allen Berliner Bezirken bereiten sich Hausmeister und freiwillige Helfer in den Schulen auf den Ansturm der evangelischen Christen aus ganz Deutschland vor. Zusätzlich werden in der gesamten Stadt Privatquartiere gesucht. Unter der Überschrift "Ham’ Se noch wat frei?" haben der Kirchentag, die Berliner Gemeinden und Berlins Regierender Bürgermeister eine Kampagne gestartet, mit der die Gastfreundlichkeit der Hauptstadt unter Beweis gestellt werden soll. Bett oder Couch – Kirchentagsbesucher sind in aller Regel nicht wählerisch. Was auch hier zählt, ist der persönliche Kontakt und das Kennenlernen: Aus vielen Schlafgästen sind der Vergangenheit schon Freunde geworden.

Der Kirchentag startet am kommenden Mittwoch mit dem "Abend der Begegnung". Nach drei Eröffnungsgottesdiensten vor dem Reichstag, vor dem Brandenburger Tor und auf dem Gendarmenmarkt verwandelt sich die Berliner Innenstadt zwischen Friedrichstraße und Siegessäule in eine große Fußgängerzone. An ungezählten Ständen präsentieren sich an diesem Abend Gemeinden, kirchliche Einrichtungen und Initiativen, die evangelische Christenheit stellt sich in ihrer ganzen Vielfalt vor. Nach Einbruch der Dunkelheit wird der Abendsegen dann in einem Meer aus Kerzen- und Lichterglanz erteilt. Man kann sich gut vorstellen, dass der große Reformator an einem solchen Abend seine helle Freude gehabt hätte.



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