Zwangsaussiedlung in Streufdorf Bürgermeister Kempf: „Aktion Ungeziefer hat Narben in den Seelen hinterlassen“

Rolf Dieter Lorenz

Stasi und Volkspolizei vertrieben vor 70 Jahren Tausende Menschen von der innerdeutschen Grenze. In Streufdorf wehrten sich die Einwohner gegen die Zwangsumsiedlung – bis Wasserwerfer auffuhren. Am Pfingstsonntag gedachte der Ort dem menschenfeindlichen Ereignis.

 
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Die Kirche St. Marien in Streufdorf ist voll besetzt an diesem Sonntagnachmittag. Viele Einwohner aus Streufdorf und den Nachbargemeinden sind erschienen: darunter Streufdorfs Bürgermeister Tino Kempf, Vizelandrat Dirk Lindner, sogar Thüringens Innenminister Georg Maier (SPD) ist angereist. Gemeinsam mit dem heutigen und dem ehemaligen Pfarrer Dietmar Schwesig und Zeno Scheirich sowie mehreren Zeitzeugen gedenken sie der menschenfeindlichen, gewaltsamen Aktion, die sich am frühen Morgen des 5. Juni 1952 in Streufdorf unter dem zynischen Tarnnamen „Aktion Ungeziefer“ abgespielt hat. Insgesamt 63 Einwohner wurden gedemütigt, enteignet, ausgesiedelt und damit ihrer Heimat beraubt. Darunter waren auch 20 Kinder.

Bürgermeister Tino Kempf bezeichnet die Aktion als bitteres, herabwürdigendes Ereignis und spricht von einer völligen Verwahrlosung an Menschlichkeit seitens des damaligen SED-Regimes. Das habe sogar den Freitod von Menschen in Kauf genommen. Die Menschen seien wie schmarotzende Schädlinge – wie Milben, Ratten und Mäuse – behandelt worden. Einige von ihnen hätten die Verantwortlichen sowie deren Handlanger Stasi und Volkspolizei als Kammerjäger bezeichnet. Insgesamt seien in der DDR 8369 Menschen aus den Sperrgebieten ausgesiedelt worden. Er selbst habe darüber aus Gesprächen mit seinem Vater Hubert erfahren, der ihm einmal sagte: „Ich habe keine Freunde. Meine besten Freunde wurden ausgesiedelt oder sind in den Westen geflüchtet.“ Auch sein Vater hatte vorgehabt, nach Bayern zu flüchten. Er habe sich aber dagegen entschieden, weil er die Familie nicht allein lassen wollte. Am 5. Juni 1952 sei beim Vater etwas kaputtgegangen, das nicht mehr zu reparieren war. „Die Aktion Ungeziefer hat Narben in den Seelen hinterlassen“, sagt Bürgermeister Tino Kempf.

In bewegenden Worten schildern die Zeitzeugen Karin Böhm und Karl Westhäuser, wie sie den Tag der Zwangsaussiedlung und Zwangsumsiedlung erlebt haben. Karin Böhm war die Schwiegertochter des damaligen Schuleiters. Morgens um fünf Uhr läuteten plötzlich die Kirchenglocken, sagt sie. Aus dem Heldburger Unterland seien LKW besetzt mit Menschen und beladen mit Möbeln vorgefahren. Die Bauern im Dorf hätten sich gewehrt und Barrikaden auf den Straßen errichtet. Später seien Polizisten als Verstärkung und Wasserwerfer gekommen, um den Aufstand niederzuschlagen. Um 16 Uhr seien die Menschen zum Bahnhof nach Hildburghausen gefahren worden. Zwei Familien mussten sich einen Viehwaggon teilen. Bei Dunkelheit habe sich der Zug in Bewegung gesetzt. Viele hätten Angst gehabt, dass es nach Sibirien gehe. Um 24 Uhr habe der Zug gestoppt. „Da hieß es dann Aussteigen“, schildert Karin Böhm. Man hatte die Menschen nach Frankenhain bei Arnstadt gebracht. „Man konnte sich das damals gar nicht vorstellen in einem demokratischen Staat“, sagt sie mit Tränen in den Augen, „damals hat die DDR sich doch auch als demokratischer Staat bezeichnet“.

Ähnlich schildert Karl Westhäuser, der sich am Widerstand der Dorfbewohner gegen die Zwangsaussiedlung beteiligte, die Vorgänge am 5. Juni 1952. „Ich war damals 16 Jahre alt, wurde auf einen LKW geladen, verhaftet und ins Gefängnis nach Suhl gebracht“, sagt er. Drei Tage später wird er wieder freigelassen. Auch sein Vater, der einen Kolonialwarenladen besaß, sei verhaftet worden – wegen 11 Pfennig Westgeld in der Ladenkasse. Später habe man ihn freigesprochen. Karl Westhäuser kommt zunächst Stützerbach. Im Spätsommer 1952 gelingt ihm über Berlin die Flucht in den Westen, wo er bei Verwandten in Düsseldorf unterkommt. Nach der Wende kehrt er nach Streufdorf zurück. „Das war ganz wichtig für mich“, sagt er, „in Streufdorf war und bin ich wieder daheim.“

Thüringens Innenminister Georg Maier erinnert daran, dass der 5. Juni 1952 ein Tag war, an dem Hoffnungen und Zukunftspläne zerstört sowie Familien und Freunde auseinandergerissen wurden. Und dass mit dem Mauerbau 1961 der SED-Staat den Bürgern 28 Jahre ihrer Freiheit beraubt habe. Die Mauer bleibe im Gedächtnis und zeige, das Demokratie, Freiheit und Rechtsstaat erst erkämpft werden müssen. „Die Erinnerung der Zeitzeugen macht Geschichte lebendig“, sagt Maier. Die Gedenkveranstaltung 70 Jahre nach der Zwangsaussiedlung in Streufdorf, „der heutige Tag mahnt uns, Demokratie, Freiheit und Rechtsstaat zu verteidigen.

Streufdorfs ehemaliger Pfarrer Zeno Scheirich spricht in seiner Andacht von einem kleinen Bauernkrieg, den die Streufdorfer damals mehrere Stunden lang gegen die Staatsmacht geführt hätten, von einem Kampf „David gegen Goliath“, Streufdorf gegen den Staatssicherheitsdienst. Dennoch seien über 60 Menschen ihrer Heimat beraubt worden. Die Frage nach Heimat, sei eine Grundfrage des Menschseins, die auch im Johannes-Evangelium erwähnt ist, wo es heißt: „Ihr werdet in Gott Eure Heimat finden“. Heimat sei mehr als ein Bett, ein Dach und ein Tisch, so Scheirich. „Heimat ist ein Platz für meine Geschichte, ein Platz für die Zukunft, Heimat ist eine Heimat der offenen Tür und der offenen Herzen, in der man den unerzählten Geschichten Raum geben kann, sagt Streufsdorfs ehemaliger Pfarrer.

Nach dem anderthalbstündigen Gottesdienst, der von der Band „Heavens Gate“ musikalisch untermalt wurde, legen Innenminister Georg Maier, Vize-Landrat Dirk Lindner und Streufdorfs Bürgermeister Tino Kempf Kränze an einem Gedenkstein vor der Kirche nieder. Auf ihm steht: „Gegen das Vergessen“. Der Stein erinnert an die Zwangsaussiedlung und Flucht aus Streudorf und war 2002 aufgestellt und von Pfarrer Zeno Scheirich zusammen mit dem damaligen thüringischen Ministerpräsidenten, Bernhard Vogel, eingeweiht worden.

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