Zeitreise ins Spielzeugland Klassengesellschaft der Puppen

Conrad Alberti

Rund um Sonneberg liegt das Puppenland. Den kleinen Wesen ging es hier immer zauberhaft. Die Menschen, die auch dort lebten, hatten aber ihre liebe Mühe. Ein prominenter Besucher aus der Weltstadt Berlin hat ihnen auf die Finger und in die Portmonees geschaut.

 
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Sonneberg - Seit Jahrhunderten spielen große und kleine Menschenkinder mit Puppen. Es gab einmal eine Zeit, da stand die Wiege dieser zierlichen   Wesen im  Thüringer Wald. In den großen Städten erträumte man sich davon ein Märchenland. Zwischen Coburg, Neustadt, Eisfeld und Sonneberg war dieses Märchen weniger strahlend, aber die Menschen hatten ein Auskommen und ihre Zukunft sollte bald besser werden. Eine Berliner Zeitung schickte ihren berühmten Autoren ins Puppenland unserer  Vorfahren und berichtete  um das Jahr 1890 Folgendes:

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Die Reise beginnt mit Überlegungen

Wenn wir noch in der guten alten Zeit lebten, in der sich die großen Kinder noch mehr an Märchen freuten als die kleinen, würde ich meinen heutigen Reisebericht also anfangen:

„Mitten im Herzen des großen deutschen Reiches liegt das Puppenland. Es ist gar ein weiter Weg bis dahin und man muss viele Tage wandern und über viele Berge steigen und über große Flüsse fegen, bis man dahin kommt. Und man wird sehr müde und ich wäre manchmal lieber unterwegs umgekehrt, wenn ich nicht der kleinen Anna versprochen hätte, die Schwester ihrer großen, sprechenden Puppe Marie zu holen, die noch im Puppenlande wohnt, und nach der ihr so bange ist, und der ich erzählen will, wie schön es in Berlin ist, wo der liebe, junge Herr Kaiser wohnt, und die vielen Soldaten sind und die Kuchen so süß schmecken.

Und ganz zuletzt, wenn man glaubt, man ist schon im Puppenlande, da kommt noch einmal ein ganz hohes Gebirge, das rings im Kreise herumgeht, das ist im Sommer grün und die Nachtigallen schlagen in den Bäumen, aber im Winter ist es voll Eis und Schnee und man glaubt oft, man sinkt bis an den Hals hinein. Aber wenn man die Berge überstiegen hat, ist man mitten im Puppenlande drin. Die Puppen wohnen in bunten, schönen Häusern und schlafen zu vielen Dutzenden in großen, breiten Betten von geflochtenem Stroh. Und sie werden, wenn sie aufwachen, von Menschen bedient, die immer in ihrer Nähe sind und warten, bis sie gerufen werden, die Männer und Frauen kleiden sie an und kleiden sie wieder aus, frisieren sie und bringen sie zu Bett, und füttern sie mit Heu und Sägespänen und Rosinen so lange, bis sie satt sind. Und viele, viele Fräuleins sind nur damit beschäftigt, immer neue und schöne Anzüge für die Puppen zu arbeiten, damit sie sich schmücken und putzen können. …“

Die Kinder kommen heute mit grauen Köpfen auf die Welt

Aber – leider! Märchen sind gar nicht mehr modern, die Welt ist nüchtern geworden, die kleinen Kinder spielen Holzauktion im Grunewald, und wenn sie etwas größer geworden sind, lesen sie realistische Romane. Die Kinder kommen heute mit grauen Köpfen auf die Welt, wie es der alte Hesiob prophezeit hat, und wenn man ihnen von Feen und Geistern erzählen will, so lachen sie einem ins Gesicht. Es ist ein Wunder, dass die kleinen Mädchen noch mit Puppen spielen und die kleinen Jungen noch mit Hampelmätzen – aber ich sehe diese Requisiten einer überwundenen Sentimentalität auch schon die Rumpelkammern fliegen, ich sehe in den Kinderstuben bereits bloß noch Eisenbahnunfälle mit Zinntoten, wie man sie schon auf dem letzten Weihnachtsmarkt gefunden.

Unsere Kinder wissen ganz genau, dass die Lieder, die ihnen Püppchen zum besten gibt, aus einem kleinen Phonographen in der Brust der Puppe kommen – sie glauben an Edison, aber nicht mehr an die Puppenfee. Sie lachen über den Storch, der die Kinder bringt, und über den Weihnachtsmann, der die Puppen bringt. Und so schildere ich meine Reise ins Puppenland denn auch nicht mit märchenhaften Farben, sondern so nüchtern und prosaisch, wie sie gewesen ist.

Das Thüringer Erfolgsgeheimnis

Die industriellen Verhältnisse im nördlichen Thüringen sind in einer ausgezeichneten Studie wenigstens teilweise beschrieben worden, soweit die Hausindustrie in Frage kommt. Die südlichen Teile des Waldes aber harren noch ihres volkswirtschaftlichen Schilderers, und so interessierte es mich, wenigstens einen kleinen Stein zu dieser lohnenden aber schwierigen Arbeit herbeizubringen. In Thüringen sind Hausindustrie und Manufaktur (Handbetrieb in der Werkstatt des Unternehmers) sehr zahlreich vertreten – die eigentliche Fabrikation aber, der Dampfbetrieb, schwächer, was zum Teil in dem Wassermangel seinen Grund hat, an dem ganz Thüringen leidet, und der sogar die Blumenzucht und Gärtnerei auf einer dauernd niedrigen Stufe hält.

In Thüringen findet man ganz besonders die Lokalisierung der Betriebe verbreitet, jede Stadt, ja viele Dörfer haben ihre bestimmte Spezialität, die sie allein fabrizieren, die man nirgends in gleicher Vollkommenheit findet. Das Gesetz der natürlichen Auslese hat auch im wirtschaftlichen Leben Geltung. Die Produkte eines Ortes erringen sich auf einem bestimmten Gebiet einen Namen, alle Welt will die Ware nur noch unter der Marke dieses Ortes haben – die Suggestion spielt ja beim Kaufen eine so große Rolle! – immer mehr Fabrikanten lassen sich an jenem Orte nieder, die ganze Bevölkerung wendet sich der lohnenden Arbeit zu, und durch die fortwährende Beschäftigung mit dem einen Gegenstande erlangen die Leute wirklich eine immer feinere Ausbildung ihrer Geschicklichkeit. Diesem Gesetz verdankt Sonneberg seinen Weltruf als Puppenstadt.

Die Pleite in Coburg

Es ist ein bisschen schwer, dahin zu kommen. Man macht erst die endlose Fahrt bis Coburg. Die Veste, welche die Stadt hoch überragt, enthält reiche Sammlungen und bietet wundervolle Aussichten. Wenn man aber des Mittags heraufkommt und nur eine Stunde Zeit hat bis zum nächsten Zuge, so sind die Sammlungen geschlossen, und außer der Zeit öffnet der Kastellan nicht für eine Million. Und wenn es mit Scheffeln gießt, so sieht man nicht bis Neusess hinüber. Das Theater zur Stagione in Gotha, die Sammlungen nicht zugänglich, und abscheuliches Wetter – man wird zugeben, mehr Pech kann man in Coburg an einem Tage nicht haben. Meine Reise fing gut an. Ich machte schleunigst, dass ich weiterkam, nach Sonneberg.

Der Zug dampfte, so schnell es der Werrabahn möglich ist, durch die Gefilde und Täler. Auf den lang hingezogenen Hügelketten lag der Schnee, die obere Kruste schwärzlich und bestaubt, die Talsohle entlang stand freies Wasser, es überschwemmte Wege und Gärten und isolierte die Bauernhäuser, wie daheim im Spreewald. Graue, ungesunde Wasserdämpfe wanden sich unter dem Einfluss der emporsteigenden Sonne allenthalben aus dem Sumpfgelände los. Februarius – Fiebermonat – Brumaire! … Bei Neustadt fängt das Puppenland an, rechts und links von der Bahn; wo sich nur ein stattlicher Ziegelbau erhebt, leuchtet die Aufschrift: „Puppenfabrik“, die immer öfter wiederkehrt, bis der Schaffner „Sonneberg!“ ruft.

Die liebliche Stadt im Tal

Wie lieblich die Stadt in dem weiten Talkessel liegt! Wie entzückend müssen im Sommer diese niedrigen, anmutig geschwungenen Hügel grünen! Alles ist klein, nett, liebenswürdig, wie es sich im Puppenlande geziemt. Wie hübsch und sauber diese einstöckigen Häuser der Unterstadt, mit ihren Erkern und Giebeln – alles so neu, so blitzend, wie eben aus der Spielzeugschachtel genommen. Nur der Schmutz nicht, diese halbweiche, bei jedem Schritt aufklatschende Mischung von Eis und Erde, zäh und glitschig, über die es bei dieser Jahreszeit hinweggeht, bergauf, bergab, hüpfend, springend, vorsichtig mit dem Stock tastend, jeden Augenblick in Gefahr hinzustürzen. Zum Überfluss fängt es auch noch zu regnen an! …

Ich konnte mich hier in Sonneberg nicht wie anderwärts als harmloser Reisender einführen und meine Beobachtungen im Stillen machen, denn überall kannte man meinen Namen und den dieses Blattes. Es scheint, dass in Sonneberg nicht nur viel gearbeitet, sondern auch viel gelesen wird. In Bezug auf Lohn- und Arbeiterverhältnisse war ich daher auf die Angaben meiner Führer angewiesen, die ich unterwegs ausfragte. Ich erhielt aber überall Zutritt, obgleich die Leute hier in der letzten Zeit misstrauisch geworden sind, da sich vielfach auswärtige Konkurrenten unter falschen Namen eingeschlichen und den Leuten Arbeitsgeheimnisse abgelauscht haben.

Die Klassengesellschaft der Puppen

Viele Hände müssen zusammenwirken, um eine Puppe entstehen zu lassen. Die Herstellung beginnt mit dem Rumpf. Die mannigfachsten Stoffe werden dazu verwendet. Pappmache, Leinwand, die man mit Heu ausstopft, Holz, das auf der Drehbank die Facon erhält, Leder. Doppeltes Leder ist das feinste, es ist der Stoff der Puppenaristokratie – was bei uns Menschen das blaue Blut bedeutet, kennzeichnet bei unseren Abbildern das Leder. Für die gemeinen Alltagspuppen, die „große Masse“ ist Pappmache der Stoff, ein graues Zeug, weich wie Tonerde.

Jedes Glied besteht aus zwei Teilen, die in einer Eisenform gepresst und dann hohl aneinandergesetzt werden. So kommen Rümpfe, Köpfe, Beine, Arme aus den Häusern der Sonneberger Leute in die Fabrik. Die Puppen aus Holz oder Pappmache haben sämtlich Kugelgelenke, die ineinanderpassen. Die gestopften Puppen sind am Rande der Glieder durch Nähte verschlossen. Die Glieder der letzteren Sorte werden aneinandergenäht, die der Gelenkpuppen auf verschiedene Weise aneinandergepasst. Die billigeren und schlechteren zieht man auf Gummistrippen, die leicht reißen die Patentpuppen – das ist so der bessere Mittelstand - aber werden auf zwei Spiralen geschraubt, so dass man ein krankes Glied sofort abnehmen und durch ein frisches ersetzen kann, eine Wonne für die Kinder, die ihrem Spielzeug so gerne auf den Grund gehen.

Der Fabrikant liefert den Hausarbeitern Form und Rohstoff, mit der Zusammensetzung der Glieder beginnt die Tätigkeit in der Werkstatt. Vorher wird jedes einzelne weißgraue Glied in einem Topf mit Leimfarbe fleischrot gefärbt, Augenbrauen und Nägel werden mit wenigen Strichen gemalt, ein matter Lack macht die Puppen waschbar. Besonders feine Puppen bekommen Porzellanköpfe, die durch einen wachsartigen Überzug ein gar kokettes Ansehen erhalten. An langen Tischen sitzen die Arbeiter, blitzschnell ist eine Hand, eine Brust vollendet, ein Arbeiter reicht sie dem anderen, am Ende der Tafel schichten sie sich zu mächtigen Haufen auf, während an der Rückseite des Zimmers eine alte Frau über einem eisernen Ofen in dem Leimbrei rührt, nach dem das ganze Zimmer riecht. An der Decke trocknen die Glieder auf langen Bretter und Kisten.

Die Puppen lernen sehen

Nun kommen die Augen, die blitzenden, hellen Augen, die für unsere Kinder stets die größte Freude sind. In großen Tüten bringt man sie frisch von Lauscha an, eine Stunde weiter im Gebirge, wo sie in den Glasbläsereien geformt und gemalt werden. Natürlich fallen sie nicht gleichmäßig aus, die einen heller, die anderen dunkler, die einen größer, die anderen kleiner, und der Arbeiter, der für eine Puppe immer je zwei passende aussucht, muss schon selber sehr helle und sichere Augen haben. Sie werden dann eingesetzt und mit Gips befestigt, nachdem man sie in Wachs getaucht hat – dann wird der ganze Kopf erst gefärbt, und die Haut, die sich über den Augen bildet, weggeschnitten, so dass Püppchen jetzt klar und strahlend in die Welt guckt. Manche aber können die Augen schließen, im Liegen schlummern, sie beim Aufstehen wieder öffnen. Deren Augen werden auf ein Pechstück befestigt, daran schließt sich ein Draht mit einem Bleiklumpen am Ende. Die Augen hängen beweglich in Gipsangeln – geht nun beim Umbiegen des Körpers das Blei hinunter, so gehen auch die Augen mit und zeigen das Lid, in dem sie enden, beim Aufstellen aber klappen sie wieder empor. Andere können nicht bloß blinzeln, sondern auch „Papa“ und „Mama“ sagen: Die einen deutlich, die anderen unklar. Denen setzt man in den Brustkasten einen kleinen Blasebalg, in den durch Ziehen an der Strippe Luft tritt, welche beim Loslassen durch eine enge Öffnung entweicht, in der ein Kügelchen hin und her springt, wodurch sich der Ton bildet.

Die Frisur entsteht

Nun geht’s daran, den kleinen Geschöpfen Haare auf den Kopf zu setzen. In großen Strähnen gesponnen kommt das Mohairgarn aus England, wo man die Haare der Angoraziege dazu verwendet, und neuerdings auch den Stoff einer ostindischen Nessel. Mehrere Mädchen sitzen an viereckigen Tischen: Das eine wickelt eine Hand voll um die andere in lange Locken, das nächste brennt die Locken zur größeren Sicherheit nach oder zieht sie auf Treffe, indem es einzelne Bündel, die an einem Querfaden hängen, auf kleine Gazestücken mit der Nadel befestigt, nachdem es sie über einer Drahtkratze gleich gelegt. Das geht fix! fix! – Die dünnen Finger, die spinnenartigen Hände fliegen nur so hin und her, und das Mädchen wagt von seiner Arbeit kaum aufzusehen.

Und jetzt wird die Frisur fertiggemacht. Das nächste Mädchen ergreift Puppe um Puppe beim Kragen, schmiert das kahle Haupt mit heißem Kleister ein – auf offener Flamme, an der sich die Finger oft genug versengen, kocht neben ihm der Leimtopf – und pappt ein paar Locken drauf. Da wird frisiert, Haar abgeschnitten, an anderer Stelle wieder aufgeklebt, mit unheimlicher Schnelligkeit; und ehe ein paar Minuten vergehen, hat Püppchen die schönsten Ponyhaare, die idealsten griechischen Locken einer Modeschönheit aus dem Potsdamer Viertel von Berlin. Es gibt nur einige bestimmte Frisuren, die sich nach Zeit und Preis richten. Die Wimpernhaare werden nicht aufgesetzt, sondern – zugleich mit den Lippen – aufgemalt, von jungen Mädchen, die gewandt mit feinen Pinseln umgehen.

Hemden, Röcke und Versand

Jetzt ist der Körper fertig und die Toilette beginnt. Hier werden feine Hemden zugeschnitten, da Röcke, dort Schürzen, auf Nähmaschinen zusammengenäht, eine dritte Hand zieht sie hastig über die gefühllosen Leiber. In zwei großen, nicht zu hohen zimmern ist der ganze Betrieb beisammen, und überall bemerke ich eine große Eilfertigkeit, ein Ausnutzen der Zeit bis auf die Sekunde, ein maschinenhaftes Ergreifen der Ware, Bearbeiten, Forttragen – wohl darauf zurückzuführen, dass bei der Kleinheit der Betriebe das Auge des Chefs fast beständig über dem Ganzen wacht. Zu Hunderten, eng aneinandergepresst, liegen die Puppen zunächst in breiten, flachen Strohmulden am Boden, bis Arbeiterinnen oder Lehrjungen sie in Pappcartons zum Versand verpacken.

Kinder müssen mithelfen bis in die Nacht

Früher wurde die ganze Herstellung von den angesessenen Einwohnern der Stadt in ihren Wohnungen betrieben, bis der moderne Großbetrieb auswärtiges Kapital heranzog. Nur ein Teil der älteren Einwohner war in der Lage, den Betrieb mit größeren Mitteln fortzuführen. In der Oberstadt, in der die ärmere Bevölkerung in kleinen unansehnlichen Häusern wohnt, und auf dem flachen Lande, in den Dörfern des Gebirges, wird nur noch die Pressung der Körperteile als Hausarbeit betrieben, wozu der Fabrikant die eisernen Formen und das Rohmaterial liefert.

Da müssen auch die Kinder, sowie sie von der Schule heimkommen, mithelfen, bis tief in die Nacht hinein, bis ihnen vor Müdigkeit die schweren Formen aus den Händen fallen, auf ihre kleinen schwachen Füße. In den Fabriken beschäftigt man die Kinder nicht gern, weil man bei ihnen in der Ausnutzung der Zeit gesetzlich zu beschränkt ist, höchstens als Laufburschen verdienen sich die Knaben ihre 5 Mark die Woche. Für die Erwachsenen ist die Arbeitszeit durchgängig von 7 Uhr früh bis 8 Uhr abends, in der zweiten Hälfte des Sommers, in der die Saison beginnt, freilich auch länger. Den Frauen fällt hauptsächlich die Sorge für Frisur und Toilette der Puppen zu, die Herstellung des Körpers selbst besorgen meist Männer.

Bescheidene Löhne bei hohen Preisen

Bezahlt wird nach Leistung, Geschicklichkeit, Schwere der Arbeit, die Preise sind sehr mannigfaltig, im Durchschnitt verdient eine Arbeiterin ihre 6 Mark die Woche; 8,50 Mark dürfte das Höchstmaß sein. Das ist nicht das Elend, aber noch weniger der Überfluss, wenn man bedenkt, dass die Lebensmittel hier nicht viel billiger sind als in großen Städten, das Pfund Rindfleisch 0,60 M., Schweinefleisch 0,80 M. kostet. Um einigermaßen etwas zu schaffen, sind die Mädchen gezwungen, sich des Abends noch Arbeit nach Hause zu nehmen und in der Regel bei schlechter Beleuchtung bis gegen Mitternacht mit Nadel und Schere zu hantieren. Sie sehen auch fast alle sehr abgestumpft aus und geben auf die äußere Erscheinung weniger als die Mädchen andernwärts; man sieht auch viele in Umständen arbeiten, die sie, wenn die Not nicht wäre, sicherlich zu Hause halten würden.

Die Sonneberger Waren

Die Puppen sind der wichtigste Fabrikationszweig Sonnebergs, wenn auch nicht sein einziger. Auch eine große Anzahl anderer Spielwaren gehen von hier aus in die Welt. Namentlich auf zootechnischem Gebiet wird hier viel geleistet, und Tiere aller Art, springende Rosse, brüllende Löwen, schreitende Kamele, geduldige Esel, sich den Hals ausreckende Giraffen werden in Holz, Pappmache und Leder in den kühnsten Größenverhältnissen gefertigt. Einzelne Fabrikanten sind wirkliche Künstler. Auch in Holz geschnitzte Puppenstuben, Schäfereien, Soldaten und andere Spielwaren, sauber in Schachteln verpackt, nehmen aus den niederen Hütten der Meininger Gebirgler ihren Weg in die Welt.

Der Schweiß am Spielzeug

Es klebt viel Schweiß an diesen zierlichen Dingern: Die Zeiten, da die Bauern in ihren Mußestunden dergleichen nur zu ihrem Vergnügen anfertigten, sind längst vorbei, und fast alle sind die einfachen Lohnarbeiter einiger hauptstädtischer Großindustrieller, die sie durch kleine Vorschüsse in ihrer Schuld zu halten wissen und dann ihre Kräfte für ein billiges ausnutzen. Auch hier müssen die Ältesten und Jüngsten der Familie weit über die Kräfte ihrer Jahre hinaus mithelfen, die magere Existenz des Hauses täglich zu erkämpfen. Übrigens ist Sonneberg schon längst nicht mehr die wichtigste Erzeugungsstadt für Puppen und Spielwaren, selbst Berlin, diese moderne Riesenwerkstatt, ist ihm darin über – aber der Ruf verklärt fast sagenhaft noch immer dieses kleine thüringische Städtchen. Die Berliner Arbeitsverhältnisse werden wir auf anderen, für die Weltstadt charakteristischeren Gebieten demnächst genauer kennenlernen.

Hintergrund: Der Autor Conrad Alberti und seine Zeit

Was einem so in den Stößen alter Familienpapiere in die Hände fällt: Ein fein säuberlich gefalteter und hübsch illustrierter Zeitungsbericht „Im Puppenlande“ von einem Herrn Conrad Alberti, der als Berliner Autor nach Sonneberg gereist ist.

Er muss ihn um 1890 verfasst haben, denn er schreibt vom „jungen Kaiser“ – Wilhelm II. hat 1888 als 33-Jähriger das Zepter übernommen – und noch in alter Rechtschreibung, die 1901 geändert wurde. Auch reist er noch über Coburg mit der Werra-Bahn an – die Strecke Eisfeld nach Sonneberg geht erst 1910 in Betrieb.

Zur Zeit seiner Reise kennt man Sonneberg schon im ganzen Land, aber es ist noch nicht am Ende seines Aufschwungs. Nach 1890 boomt Sonneberg wie das ganze Deutsche Reich. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges 1914 kommen schließlich aus dem Industriebezirk

Sonneberg und Neustadt nahezu 40 Prozent der in Deutschland produzierten Spielwaren. Das entspricht 20 Prozent der Weltspielwarenproduktion. Nürnberg und das Erzgebirge folgen mit uneinholbarem weitem Abstand. Drei von vier Spielsachen aus Sonneberg werden ins Ausland verkauft. Da war Sonneberg wirklich die „Weltspielwarenstadt“, die Alberti so noch nicht vorgefunden hat.

Conrad Alberti wurde 1862 in Breslau geboren und starb 1918 in Berlin. Er machte sich einen Namen als Schriftsteller, Biograf, Literaturhistoriker und Chefredakteur der Berliner Morgenpost. Er schrieb neben mehren Novellen auch fünf Romane, zwei Lustspiele und fünf Dramen. Wer weiß, vielleicht hat ihn ja auch die ein oder andere Szene in Sonneberg inspiriert und fand Eingang in sein Bücherwerk. (Olaf Amm)

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