Die liebliche Stadt im Tal
Wie lieblich die Stadt in dem weiten Talkessel liegt! Wie entzückend müssen im Sommer diese niedrigen, anmutig geschwungenen Hügel grünen! Alles ist klein, nett, liebenswürdig, wie es sich im Puppenlande geziemt. Wie hübsch und sauber diese einstöckigen Häuser der Unterstadt, mit ihren Erkern und Giebeln – alles so neu, so blitzend, wie eben aus der Spielzeugschachtel genommen. Nur der Schmutz nicht, diese halbweiche, bei jedem Schritt aufklatschende Mischung von Eis und Erde, zäh und glitschig, über die es bei dieser Jahreszeit hinweggeht, bergauf, bergab, hüpfend, springend, vorsichtig mit dem Stock tastend, jeden Augenblick in Gefahr hinzustürzen. Zum Überfluss fängt es auch noch zu regnen an! …
Ich konnte mich hier in Sonneberg nicht wie anderwärts als harmloser Reisender einführen und meine Beobachtungen im Stillen machen, denn überall kannte man meinen Namen und den dieses Blattes. Es scheint, dass in Sonneberg nicht nur viel gearbeitet, sondern auch viel gelesen wird. In Bezug auf Lohn- und Arbeiterverhältnisse war ich daher auf die Angaben meiner Führer angewiesen, die ich unterwegs ausfragte. Ich erhielt aber überall Zutritt, obgleich die Leute hier in der letzten Zeit misstrauisch geworden sind, da sich vielfach auswärtige Konkurrenten unter falschen Namen eingeschlichen und den Leuten Arbeitsgeheimnisse abgelauscht haben.
Die Klassengesellschaft der Puppen
Viele Hände müssen zusammenwirken, um eine Puppe entstehen zu lassen. Die Herstellung beginnt mit dem Rumpf. Die mannigfachsten Stoffe werden dazu verwendet. Pappmache, Leinwand, die man mit Heu ausstopft, Holz, das auf der Drehbank die Facon erhält, Leder. Doppeltes Leder ist das feinste, es ist der Stoff der Puppenaristokratie – was bei uns Menschen das blaue Blut bedeutet, kennzeichnet bei unseren Abbildern das Leder. Für die gemeinen Alltagspuppen, die „große Masse“ ist Pappmache der Stoff, ein graues Zeug, weich wie Tonerde.
Jedes Glied besteht aus zwei Teilen, die in einer Eisenform gepresst und dann hohl aneinandergesetzt werden. So kommen Rümpfe, Köpfe, Beine, Arme aus den Häusern der Sonneberger Leute in die Fabrik. Die Puppen aus Holz oder Pappmache haben sämtlich Kugelgelenke, die ineinanderpassen. Die gestopften Puppen sind am Rande der Glieder durch Nähte verschlossen. Die Glieder der letzteren Sorte werden aneinandergenäht, die der Gelenkpuppen auf verschiedene Weise aneinandergepasst. Die billigeren und schlechteren zieht man auf Gummistrippen, die leicht reißen die Patentpuppen – das ist so der bessere Mittelstand - aber werden auf zwei Spiralen geschraubt, so dass man ein krankes Glied sofort abnehmen und durch ein frisches ersetzen kann, eine Wonne für die Kinder, die ihrem Spielzeug so gerne auf den Grund gehen.
Der Fabrikant liefert den Hausarbeitern Form und Rohstoff, mit der Zusammensetzung der Glieder beginnt die Tätigkeit in der Werkstatt. Vorher wird jedes einzelne weißgraue Glied in einem Topf mit Leimfarbe fleischrot gefärbt, Augenbrauen und Nägel werden mit wenigen Strichen gemalt, ein matter Lack macht die Puppen waschbar. Besonders feine Puppen bekommen Porzellanköpfe, die durch einen wachsartigen Überzug ein gar kokettes Ansehen erhalten. An langen Tischen sitzen die Arbeiter, blitzschnell ist eine Hand, eine Brust vollendet, ein Arbeiter reicht sie dem anderen, am Ende der Tafel schichten sie sich zu mächtigen Haufen auf, während an der Rückseite des Zimmers eine alte Frau über einem eisernen Ofen in dem Leimbrei rührt, nach dem das ganze Zimmer riecht. An der Decke trocknen die Glieder auf langen Bretter und Kisten.
Die Puppen lernen sehen
Nun kommen die Augen, die blitzenden, hellen Augen, die für unsere Kinder stets die größte Freude sind. In großen Tüten bringt man sie frisch von Lauscha an, eine Stunde weiter im Gebirge, wo sie in den Glasbläsereien geformt und gemalt werden. Natürlich fallen sie nicht gleichmäßig aus, die einen heller, die anderen dunkler, die einen größer, die anderen kleiner, und der Arbeiter, der für eine Puppe immer je zwei passende aussucht, muss schon selber sehr helle und sichere Augen haben. Sie werden dann eingesetzt und mit Gips befestigt, nachdem man sie in Wachs getaucht hat – dann wird der ganze Kopf erst gefärbt, und die Haut, die sich über den Augen bildet, weggeschnitten, so dass Püppchen jetzt klar und strahlend in die Welt guckt. Manche aber können die Augen schließen, im Liegen schlummern, sie beim Aufstehen wieder öffnen. Deren Augen werden auf ein Pechstück befestigt, daran schließt sich ein Draht mit einem Bleiklumpen am Ende. Die Augen hängen beweglich in Gipsangeln – geht nun beim Umbiegen des Körpers das Blei hinunter, so gehen auch die Augen mit und zeigen das Lid, in dem sie enden, beim Aufstellen aber klappen sie wieder empor. Andere können nicht bloß blinzeln, sondern auch „Papa“ und „Mama“ sagen: Die einen deutlich, die anderen unklar. Denen setzt man in den Brustkasten einen kleinen Blasebalg, in den durch Ziehen an der Strippe Luft tritt, welche beim Loslassen durch eine enge Öffnung entweicht, in der ein Kügelchen hin und her springt, wodurch sich der Ton bildet.
Die Frisur entsteht
Nun geht’s daran, den kleinen Geschöpfen Haare auf den Kopf zu setzen. In großen Strähnen gesponnen kommt das Mohairgarn aus England, wo man die Haare der Angoraziege dazu verwendet, und neuerdings auch den Stoff einer ostindischen Nessel. Mehrere Mädchen sitzen an viereckigen Tischen: Das eine wickelt eine Hand voll um die andere in lange Locken, das nächste brennt die Locken zur größeren Sicherheit nach oder zieht sie auf Treffe, indem es einzelne Bündel, die an einem Querfaden hängen, auf kleine Gazestücken mit der Nadel befestigt, nachdem es sie über einer Drahtkratze gleich gelegt. Das geht fix! fix! – Die dünnen Finger, die spinnenartigen Hände fliegen nur so hin und her, und das Mädchen wagt von seiner Arbeit kaum aufzusehen.
Und jetzt wird die Frisur fertiggemacht. Das nächste Mädchen ergreift Puppe um Puppe beim Kragen, schmiert das kahle Haupt mit heißem Kleister ein – auf offener Flamme, an der sich die Finger oft genug versengen, kocht neben ihm der Leimtopf – und pappt ein paar Locken drauf. Da wird frisiert, Haar abgeschnitten, an anderer Stelle wieder aufgeklebt, mit unheimlicher Schnelligkeit; und ehe ein paar Minuten vergehen, hat Püppchen die schönsten Ponyhaare, die idealsten griechischen Locken einer Modeschönheit aus dem Potsdamer Viertel von Berlin. Es gibt nur einige bestimmte Frisuren, die sich nach Zeit und Preis richten. Die Wimpernhaare werden nicht aufgesetzt, sondern – zugleich mit den Lippen – aufgemalt, von jungen Mädchen, die gewandt mit feinen Pinseln umgehen.
Hemden, Röcke und Versand
Jetzt ist der Körper fertig und die Toilette beginnt. Hier werden feine Hemden zugeschnitten, da Röcke, dort Schürzen, auf Nähmaschinen zusammengenäht, eine dritte Hand zieht sie hastig über die gefühllosen Leiber. In zwei großen, nicht zu hohen zimmern ist der ganze Betrieb beisammen, und überall bemerke ich eine große Eilfertigkeit, ein Ausnutzen der Zeit bis auf die Sekunde, ein maschinenhaftes Ergreifen der Ware, Bearbeiten, Forttragen – wohl darauf zurückzuführen, dass bei der Kleinheit der Betriebe das Auge des Chefs fast beständig über dem Ganzen wacht. Zu Hunderten, eng aneinandergepresst, liegen die Puppen zunächst in breiten, flachen Strohmulden am Boden, bis Arbeiterinnen oder Lehrjungen sie in Pappcartons zum Versand verpacken.
Kinder müssen mithelfen bis in die Nacht
Früher wurde die ganze Herstellung von den angesessenen Einwohnern der Stadt in ihren Wohnungen betrieben, bis der moderne Großbetrieb auswärtiges Kapital heranzog. Nur ein Teil der älteren Einwohner war in der Lage, den Betrieb mit größeren Mitteln fortzuführen. In der Oberstadt, in der die ärmere Bevölkerung in kleinen unansehnlichen Häusern wohnt, und auf dem flachen Lande, in den Dörfern des Gebirges, wird nur noch die Pressung der Körperteile als Hausarbeit betrieben, wozu der Fabrikant die eisernen Formen und das Rohmaterial liefert.
Da müssen auch die Kinder, sowie sie von der Schule heimkommen, mithelfen, bis tief in die Nacht hinein, bis ihnen vor Müdigkeit die schweren Formen aus den Händen fallen, auf ihre kleinen schwachen Füße. In den Fabriken beschäftigt man die Kinder nicht gern, weil man bei ihnen in der Ausnutzung der Zeit gesetzlich zu beschränkt ist, höchstens als Laufburschen verdienen sich die Knaben ihre 5 Mark die Woche. Für die Erwachsenen ist die Arbeitszeit durchgängig von 7 Uhr früh bis 8 Uhr abends, in der zweiten Hälfte des Sommers, in der die Saison beginnt, freilich auch länger. Den Frauen fällt hauptsächlich die Sorge für Frisur und Toilette der Puppen zu, die Herstellung des Körpers selbst besorgen meist Männer.
Bescheidene Löhne bei hohen Preisen
Bezahlt wird nach Leistung, Geschicklichkeit, Schwere der Arbeit, die Preise sind sehr mannigfaltig, im Durchschnitt verdient eine Arbeiterin ihre 6 Mark die Woche; 8,50 Mark dürfte das Höchstmaß sein. Das ist nicht das Elend, aber noch weniger der Überfluss, wenn man bedenkt, dass die Lebensmittel hier nicht viel billiger sind als in großen Städten, das Pfund Rindfleisch 0,60 M., Schweinefleisch 0,80 M. kostet. Um einigermaßen etwas zu schaffen, sind die Mädchen gezwungen, sich des Abends noch Arbeit nach Hause zu nehmen und in der Regel bei schlechter Beleuchtung bis gegen Mitternacht mit Nadel und Schere zu hantieren. Sie sehen auch fast alle sehr abgestumpft aus und geben auf die äußere Erscheinung weniger als die Mädchen andernwärts; man sieht auch viele in Umständen arbeiten, die sie, wenn die Not nicht wäre, sicherlich zu Hause halten würden.
Die Sonneberger Waren
Die Puppen sind der wichtigste Fabrikationszweig Sonnebergs, wenn auch nicht sein einziger. Auch eine große Anzahl anderer Spielwaren gehen von hier aus in die Welt. Namentlich auf zootechnischem Gebiet wird hier viel geleistet, und Tiere aller Art, springende Rosse, brüllende Löwen, schreitende Kamele, geduldige Esel, sich den Hals ausreckende Giraffen werden in Holz, Pappmache und Leder in den kühnsten Größenverhältnissen gefertigt. Einzelne Fabrikanten sind wirkliche Künstler. Auch in Holz geschnitzte Puppenstuben, Schäfereien, Soldaten und andere Spielwaren, sauber in Schachteln verpackt, nehmen aus den niederen Hütten der Meininger Gebirgler ihren Weg in die Welt.
Der Schweiß am Spielzeug
Es klebt viel Schweiß an diesen zierlichen Dingern: Die Zeiten, da die Bauern in ihren Mußestunden dergleichen nur zu ihrem Vergnügen anfertigten, sind längst vorbei, und fast alle sind die einfachen Lohnarbeiter einiger hauptstädtischer Großindustrieller, die sie durch kleine Vorschüsse in ihrer Schuld zu halten wissen und dann ihre Kräfte für ein billiges ausnutzen. Auch hier müssen die Ältesten und Jüngsten der Familie weit über die Kräfte ihrer Jahre hinaus mithelfen, die magere Existenz des Hauses täglich zu erkämpfen. Übrigens ist Sonneberg schon längst nicht mehr die wichtigste Erzeugungsstadt für Puppen und Spielwaren, selbst Berlin, diese moderne Riesenwerkstatt, ist ihm darin über – aber der Ruf verklärt fast sagenhaft noch immer dieses kleine thüringische Städtchen. Die Berliner Arbeitsverhältnisse werden wir auf anderen, für die Weltstadt charakteristischeren Gebieten demnächst genauer kennenlernen.
Hintergrund: Der Autor Conrad Alberti und seine Zeit
Was einem so in den Stößen alter Familienpapiere in die Hände fällt: Ein fein säuberlich gefalteter und hübsch illustrierter Zeitungsbericht „Im Puppenlande“ von einem Herrn Conrad Alberti, der als Berliner Autor nach Sonneberg gereist ist.
Er muss ihn um 1890 verfasst haben, denn er schreibt vom „jungen Kaiser“ – Wilhelm II. hat 1888 als 33-Jähriger das Zepter übernommen – und noch in alter Rechtschreibung, die 1901 geändert wurde. Auch reist er noch über Coburg mit der Werra-Bahn an – die Strecke Eisfeld nach Sonneberg geht erst 1910 in Betrieb.
Zur Zeit seiner Reise kennt man Sonneberg schon im ganzen Land, aber es ist noch nicht am Ende seines Aufschwungs. Nach 1890 boomt Sonneberg wie das ganze Deutsche Reich. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges 1914 kommen schließlich aus dem Industriebezirk
Sonneberg und Neustadt nahezu 40 Prozent der in Deutschland produzierten Spielwaren. Das entspricht 20 Prozent der Weltspielwarenproduktion. Nürnberg und das Erzgebirge folgen mit uneinholbarem weitem Abstand. Drei von vier Spielsachen aus Sonneberg werden ins Ausland verkauft. Da war Sonneberg wirklich die „Weltspielwarenstadt“, die Alberti so noch nicht vorgefunden hat.
Conrad Alberti wurde 1862 in Breslau geboren und starb 1918 in Berlin. Er machte sich einen Namen als Schriftsteller, Biograf, Literaturhistoriker und Chefredakteur der Berliner Morgenpost. Er schrieb neben mehren Novellen auch fünf Romane, zwei Lustspiele und fünf Dramen. Wer weiß, vielleicht hat ihn ja auch die ein oder andere Szene in Sonneberg inspiriert und fand Eingang in sein Bücherwerk. (Olaf Amm)
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