War es bei Lina am Anfang vor allem das Schmatzen und Atmen, haben sich im Laufe der Zeit immer neue Auslöser für Reaktionen entwickelt: das Husten der Mitschüler, das Klicken eines Kugelschreibers, das Zirpen von Grillen. „In Stressphasen ist es besonders schlimm“, berichtet die 19-Jährige. „Während meines Abiturs habe ich sogar einen Trigger auf die eigene Atmung entwickelt. Da konnte ich kaum noch schlafen.“
So wenig man bisher über die Ursachen von Misophonie weiß, so schlecht scheint auch das Gesundheitssystem auf die Krankheit – die ja offiziell keine ist – vorbereitet zu sein. Lina berichtet, wie sich ihre Mutter „durch ganz Europa telefoniert“ habe, um eine fachkundige Person zu finden.
Die Bielefelder Psychologin Anne Möllmann kennt das Problem. „Wir können noch gar nicht genau festlegen, um welche Art von Krankheit es sich handelt und in welches Fachgebiet sie fällt. Ist es ein psychologisches oder ein HNO-Phänomen? Oder doch etwas Neurologisches?“ Dementsprechend schwer fällt es Betroffenen, ernst genommen zu werden und eine geeignete Therapie zu finden.
Bei der Recherche im Internet stoßen die meisten früher oder später auf Patrick Crauser und Andreas Seebeck. Klassische (Schul-)Mediziner sind beide nicht: Crauser (28) leidet selbst unter Misophonie und betreibt einen Youtube-Kanal, auf dem er sein „Misophonie-Coaching“ bewirbt. Seebeck (58) ist Heilpraktiker und hat einen Sohn, der betroffen ist.
„Wir sind zehn Jahre von einem Therapeuten zum nächsten gelaufen“, erzählt Seebeck. Die meisten hätten seinem Sohn geraten, Trigger-Geräusche nicht zu vermeiden. „Diese Konfrontation hat es aber nur schlimmer gemacht“, sagt Seebeck. Misophonie sei eben keine Phobie und keine Zwangsstörung; deshalb wirkten die klassischen Rezepte nicht.
Gegenkonditionierung statt Ablenkung
„Es ist besser, die Trigger zu übertönen“, sagt Seebeck. Da könnten schon ganz simple Dinge helfen: Musik anstellen, Kopfhörer aufsetzen, den Esstisch verlassen, sobald es unangenehm wird. Oft könne er mit Entspannungsübungen eine Verbesserung erreichen, sagt der Heilpraktiker. Aber auch er räumt ein: „Ich kann nicht allen helfen.“
Am Universitätsspital Basel wiederum kommt die HNO-Ärztin Antje Welge-Lüssen mehrmals im Jahr mit dieser „Spielform der Geräuschempfindlichkeit“ in Kontakt. Sie behandelt Misophonie-Patienten in ihrer Tinnitus-Sprechstunde, zusammen mit einer Psychologin.
Dem „Übertönen“ steht sie skeptisch gegenüber. „Das ist vielleicht eine kurzfristige Maßnahme, um wieder gemeinsam am Esstisch sitzen zu können“, sagt die Professorin. „Aber eine Person soll ja nicht ihr ganzes Leben mit Kopfhörern herumlaufen.“ Stattdessen konzentriert sie sich auf Entspannung und Gegenkonditionierung. „Je jünger jemand ist, desto größer die Erfolgsquote“, sagt Welge-Lüssen. Zwei ihrer Patientinnen und Patienten könnten inzwischen wieder normal essen.
Im Zweifel Kopfhörer
Die Betroffene Lina Meier kennt beide Welten. Sie war schon bei mehreren Schulmedizinern, hat aber auch den Heilpraktiker Andreas Seebeck aufgesucht. Demnächst hat sie ihren ersten Termin in der Tinnitus-Sprechstunde von Antje Welge-Lüssen.
„Ich hatte immer extrem große Hoffnungen“, sagt sie, „aber noch habe ich nicht die ideale Methode gefunden, die bei mir funktioniert.“ Seitdem der Abitur-Stress nachgelassen hat, geht es ihr wieder besser. „Ich kommuniziere meine Misophonie jetzt ganz offen“, sagt die 19-Jährige. „Das hilft, denn es nimmt den Druck raus. Und im Zweifel trage ich eben Kopfhörer.“