Biden nur ein Übergangspräsident?
Es gab nicht wenige, die Biden zum Start als Übergangspräsidenten betrachteten - als einen, der das Land nach vier Jahren Donald Trump wieder zur Ruhe bringt, eint, stabilisiert - und danach an die nächste Generation übergibt. Doch Biden scheint sich wohlzufühlen in seinem mächtigen Amt. Und bei seiner Rede vor beiden Kongresskammern macht er klar, dass er noch einiges vorhat.
"Ich habe für das Amt des Präsidenten kandidiert, um die Dinge grundlegend zu verändern, um sicherzustellen, dass die Wirtschaft für alle funktioniert", sagt Biden. Er sei angetreten, um die Seele der Nation wiederherzustellen, das Rückgrat Amerikas, die Mittelschicht, wieder aufzubauen und das Land zu einen. Das alles wolle er "zu Ende bringen". "Die Aufgabe zu Ende bringen", das wiederholt Biden in der Rede immer wieder - auch und gerade im Appell an die Republikaner, ihm dabei zu helfen oder zumindest nicht im Weg zu stehen.
Erstmals mit Kevin McCarthy im Rücken
Es ist Bidens erste Rede zur Lage der Nation vor einem Kongress, in dem die Republikaner in einer der beiden Kammern das Sagen haben. Sie haben die Kontrolle im Repräsentantenhaus übernommen. Und so sitzt hinter Biden neben seiner Stellvertreterin Kamala Harris diesmal der Republikaner Kevin McCarthy, der neue mächtige Vorsitzende des Repräsentantenhauses. Während Harris ständig für Applaus aufspringt, bleibt McCarthy die meiste Zeit demonstrativ sitzen und erhebt sich nur ein paar Mal, um Biden höflich zu beklatschen.
An Gesetzesvorhaben wird der Präsident in den kommenden zwei Jahren bei den neuen Mehrheitsverhältnissen nicht viel zustande bringen können. Auch wenn er bei seiner Rede an das Verantwortungsbewusstsein der Republikaner appelliert - überparteiliche Zusammenarbeit zum Wohle des Landes ist zur Rarität geworden in den USA. Teile beider Parteien stehen sich regelrecht feindlich gegenüber.
"Lügner!": Zwischenrufe aus den Reihen der Republikaner
Bidens Rede wird mehrfach von Zwischenrufen aus den Reihen der Republikaner begleitet. Eine meldet sich besonders oft zu Wort: die Rechtsaußen-Abgeordnete der Partei, Marjorie Taylor Greene. Einmal brüllt sie dem Präsidenten entgegen: "Lügner!" Biden pariert die Zwischenrufe, gibt sich selbst kampfbereit, schlagfertig und mischt seine Kooperationsappelle mit Kritik am Kurs der Republikaner.
Bidens Vorgänger Trump, der bislang als einziger prominenter US-Politiker offiziell eine Präsidentschaftsbewerbung für 2024 verkündet hat, kommentiert derweil Bidens Rede live auf dem von ihm mitbegründeten Twitter-Ersatz Truth Social. Da bezeichnet er Biden als führungsschwach und spottet über seinen Konkurrenten. Und die frühere Trump-Sprecherin Sarah Huckabee Sanders, die inzwischen Gouverneurin im Bundesstaat Arkansas ist und die offizielle Gegenrede der Republikaner hält, spricht Biden gleich jede Eignung für das Amt ab. Bidens Schwäche gefährde das Land und die Welt.
Doch auch in seiner eigenen Partei gibt es Zweifel, ob Biden der richtige Mann für weitere vier Jahre ist. Biden hat ein Problem: Er kann inhaltlich abliefern, so viel er will - an jenem Punkt, an dem sich selbst ihm wohlgesinnte Parteikollegen stören - seinem Alter - kann er nichts ändern. Bei der Wahl 2024 wäre Biden 81, beim Start in eine zweite Amtszeit 82, am Ende seiner Präsidentschaft dann 86. Das ist schwer mit Botschaften von Aufbruch zu vereinen. Manche Parteilinke hatten sich "kühne und aufregende Visionen" von Bidens Rede erhofft. Ob er sie überzeugt hat, muss sich zeigen.