Die Machtelite ist verantwortlich für den Niedergang
Der Alltag ist für viele zur Tortur und zum Überlebenskampf geworden. Da ist etwa die mangelhafte Stromversorgung. Viele Haushalte im Libanon haben nur wenige Stunden am Tag Strom, wenn überhaupt. Auch die Wasserversorgung kann jederzeit zusammenbrechen. Müll stapelt sich auf den Straßen. Und immer wieder fällt das Internet aus. Der Libanon ist ein Beispiel dafür, wie ein Land langsam zugrunde geht.
Selbst Vertreter der in Diplomatie geschulten Vereinten Nationen machen keinen Hehl daraus, dass vor allem Libanons Machtelite diese Lage verschuldet hat. Die "zerstörerischen Handlungen" der Anführer in Politik und Wirtschaft seien dafür verantwortlich, dass der größte Teil der Bevölkerung in die Armut getrieben worden sei, erklärte der UN-Sonderberichterstatters für extreme Armut und Menschenrechte, Olivier De Schutter, am Donnerstag. Er geißelt darin auch die überall grassierende Korruption. Ein dringend notwendiges Hilfspaket des Internationale Währungsfonds (IWF) kommt seit Monaten nicht zustande, weil die Regierung die geforderten Reformen schuldig bleibt.
Die Politik im Libanon ist bestimmt durch einen schwachen Staat und ein fragiles Machtgleichgewicht zwischen den Konfessionen. Christen, Sunniten und Schiiten teilen sich die wichtigsten Posten. Besonders einflussreich ist die schiitische Hisbollah-Organisation, die eine eigene Miliz hat und vom Iran unterstützt wird. Politik, Wirtschaft und Finanzwesen sind zugleich eng miteinander verflochten. Vor allem aber bestimmt eine kleine Zahl von alteingesessenen Familien die Geschicke des Landes. Die Treue ihrer Anhänger sichern sie sich, indem sie Geld, Gunst und Posten verteilen. Der Libanon werde von einer "Mafia" regiert, sagt Oppositionspolitikern Paula Yacoubian.
Die Jugend muss kämpfen
Wegen der desaströsen Lage verlassen vor allem viele bessergebildete Libanesen das Land, um anderswo ihr Glück zu suchen. Auch Verena al-Amil hat daran gedacht. Für die 26-Jährige wäre es ein Leichtes, nach Europa zu gehen. Ihre Familie lebt in Düsseldorf, sie hat auch einen deutschen Pass. Amil aber hat sich für einen anderen Weg entschieden: Als landesweit jüngste Kandidatin will sie wie Saliba als Vertreterin der Opposition ins Parlament einziehen.
Nach mehreren Wochen Wahlkampf sieht die junge Frau müde und geschafft aus. Doch es sei nun ihre Pflicht, den Weg zu Ende zu gehen, sagt sie. "Die Krise hat vor allem die Jugend getroffen. Aber wir haben noch immer die Möglichkeit zu kämpfen." Angetrieben von einem "Willen zum Wandel" sei sie schon als Jurastudentin jemand gewesen, der "der Schlacht" nicht habe aus dem Weg gehen können.
Aufwind erlebten die Regierungsgegner vor allem im Herbst 2019, als Massendemonstrationen gegen die politische Führung ausbrachen und Hoffnung auf einen Wandel weckten. Doch die Protestwelle ist schon seit langem zum Erliegen gekommen. Wegen des komplizierten Wahlrechts sind auch für die Abstimmung am Sonntag Prognosen kaum möglich.
Schon der Blick in die Straßen Beiruts zeigt aber, wie der Wahlkampf läuft: Während die alteingesessenen Kräfte mit ihrem Geld allerorten Wahlplakate aufgehängt haben, sind die Oppositionsvertreter kaum zu sehen. Sie habe keine Partei und Finanzen im Rücken, sagt Amil. Auch in wichtigen TV-Talkshows kann sie sich nicht zeigen, weil sie selbst dafür bezahlen müsste. Saliba geht es im Wahlkampf kaum besser.
Für die Regierungsgegner wäre es schon ein Erfolg, wenn sie am Sonntag zumindest einige Mandate gewinnen könnten. Zu ihrem politischen Engagement sieht die Wissenschaftlerin Saliba trotz der begrenzten Chancen aber keine Alternative: "Mir bleibt keine andere Wahl. Ich habe nichts mehr. Ich habe alles verloren."