Volkstrauertag Erinnerung an ermordete Jugendliche

Johannes Dieter
Angehörige erinnern an die Todesopfer im sowjetischen Speziallager Nr. 1 in Mühlberg (Brandenburg). Von 21.800 Inhaftierten kamen 6800 wegen der katastrophalen Bedingungen um (Archivbild). Foto: imago/imago

Der staatliche Feiertag am Sonntag erinnert auch an zahlreiche Jugendliche aus Sonneberg und Oberlind sowie aus anderen Orten Südthüringens. Sie wurden Opfer sowjetischer Gewalt, obwohl bei ihrem Tod schon längst Frieden herrschte.

 
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Trauert ein Volk am Volkstrauertag? Die geschlossene Frage lässt sich eigentlich nur mit „Ja“, oder „Nein“ beantworten. Ja, leider finden sich nur noch wenige Menschen an den Gedenkmalen unserer Städte und Dörfer ein, legen einen Kranz, Blumen oder Gebinde nieder, zünden eine Kerze an und halten inne. Und um wen trauern wir am Volkstrauertag? Nein, nicht nur um die Opfer der beiden Weltkriege und Gewaltherrschaften, der Opfer von Gewalt und Krieg, der Opfer der Kriege und Bürgerkriege unserer Tage.

Wir müssen auch der (fast) vergessenen jugendlichen Opfer der stalinistischen Willkür in Südthüringen gedenken, über die kaum jemand spricht, geschweige denn, etwas über sie weiß. 14 bis 18 Jahre alt waren sie meist, die jungen Kerle aus Südthüringen, von Bad Salzungen über Meiningen, Hildburghausen, Eisfeld bis nach Sonneberg und besonders Oberlind.

Nicht wenige waren kurz zuvor erst konfirmiert worden. In der damaligen sowjetischen Besatzungszone (SBZ) wurden sie von in Nazi-Filz verstrickten, unklaren Typen verdächtigt, der Werwolf-Organisation zugehörig zu sein, den Rest erledigten die sowjetischen Besatzer. Ja, sie, die Werwolf-Organisation, wurde 1944 gegründet, fand aber keine große Beachtung und schon gar keine Auswirkung auf das Kriegsgeschehen im besetzten Deutschland. Kurz nach Kriegsende und meist nachts und dann mit Gewehrkolben donnernd an Haustüren schlagend, wurden Jugendliche völlig willkürlich von Soldaten des sowjetischen Geheimdienstes NKWD gefangen genommen, verhört, geschlagen und gefoltert. Den der Werwolf-Zugehörigkeit Bezichtigten wurde bei brutalen nächtlichen Verhören und Folter versucht, ein „Geständnis“ abzupressen. Verhört wurde oft nachts und nicht selten von unter Alkohol stehenden sowjetischen Offizieren in russischer Sprache. Es folgten Todesurteile oder Arbeitslager zwischen zehn und 30 Jahren in den berüchtigten Gulags. Manche sahen dann ihre Heimat nie wieder, andere kehrten chronisch erkrankt oder völlig wesensverändert, traumatisiert und mit einem zum Schweigen verbundenen Maulkorb wieder nach Hause.

Eine Schülerin mit ihrer Freundin, beide aus Rudolstadt, schrieben vor einigen Jahren genau über dieses Thema für das Abitur ihre Seminarfacharbeit: Das Dokumentieren und Verarbeiten von stalinistisch Verfolgten in Südthüringen. Eine etwa 50 Seiten umfassende Arbeit, deren Inhalt viele unwissende Zeitgenossen erstmals vernahmen. Ein weitläufig Verwandter von mir, eines der Opfer jener stalinistischen Willkür, arbeitete den jungen Damen seine erschütternden Erlebnisse in authentischer Weise zu.

Er saß damals im Sonneberger Gefängnis zum Verhör, dann im Weimarer Militärgefängnis, dann im sowjetischen Speziallager Sachsenhausen und zuletzt im Torgauer Speziallager des sowjetischen Militärtribunals (SMT). Was ihn nach all dem Erlebten am meisten wunderte: „Das sollen unsere Befreier sein ?“ Auch stimmte ihn sehr nachdenklich, dass man in der DDR über jene schlimmen Dinge schwieg. Ja, in den Jahren nach der friedlichen Revolution 1989 gab es immerhin ein Rehabilitationsschreiben mit Stempel und Unterschrift aus einem Moskauer Archiv. Und es gab für ihn und andere auch eine einmalige „Entschädigungszahlung“ der damaligen Bundesregierung, für deren Höhe man sich heute nur schämen kann!

Trauert ein Volk am Volkstrauertag auch um stalinistisch Verfolgte? Ja, wir trauern um sie! Ihnen sind wir es schuldig, dass sie unschuldig um ihre Jugend gebracht und zeitlebens psychischem Druck ausgesetzt waren. In der Bibel, dem Buch der Juden und Christen, steht ein Paulus-Zitat mit sehr treffendem Inhalt: „Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, auf dass ein jeder empfange, wonach er gehandelt hat bei Leibesleben, es sei gut, oder es sei böse!“

Der Autor dieses Beitrages, Johannes Dieter, ist Pfarrer in Sachsenbrunn.

Oberlind: Zwischen November 1945 und März 1946 wurden durch den sowjetischen Geheimdienst NKWD aus dem kleinen Ort 27 Jugendliche ab 16 Jahren verhaftet und durch ein Militärtribunal unter Werwolf-Vorwurf zum Tode durch Erschießen oder zu langjährigem Arbeitslager verurteilt; vier Todesurteile wurden vollstreckt. In Lagern oder auf dem Transport in die Sowjetunion starben neun weitere Jugendliche.

Speziallager und Untermaßfeld: In der sowjetischen Besatzungszone wurden insgesamt 10 000 Jugendliche als Werwölfe willkürlich verhaftet. 1950 wurden 1229 Opfer der Militärjustiz nach Untermaßfeld eingeliefert. Es waren größtenteils Jugendliche, die das Speziallager VII in Sachsenhausen überlebt hatten. Viele von ihnen starben in Untermaßfeld an Tuberkulose. Ein Gedenkstein auf dem Meininger Friedhof erinnert an sie.

Sonneberger Schicksal: Tragisch ist das Schicksal der Familie Kempf aus Sonneberg-Köppelsdorf: Drei Töchter kamen bei einem Bombenangriff 1945 um. Der 15-jährige Sohn Ingfried wurde von den Sowjets als vermeintlicher Werwolf verhaftet. Er starb in einem sowjetischen Speziallager. So verlor die Familie als Folge des Krieges in kürzester Frist alle vier Kinder.  

Nachwirkungen:  Familie Rüger, welche mit dem Bruder die gleichnamige Pension in der Sonneberger Bismarckstraße betrieb, nahm sich das Leben im Zuge der SED-Aktion „Ungeziefer“, bei der rund 12 000 Menschen 1952 Menschen aus dem Grenzgebiet zum Westen ausgesiedelt wurden. Werner Rüger war erst aus der russischen Kriegsgefangenschaft heimgekehrt und hatten deren Grauen erlebt. Er meinte wie viele andere auch, die Familie würde nach Sibirien verbannt. Bereits 1946 hatten Jugendliche aus Sonneberg in der berüchtigten Werwolf-Aktion dieses Schicksal erlitten. Das wollte er Frau und Sohn ersparen. Er drehte den Gashahn auf.

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