Ukraine-Flüchtlinge Das leise Leben in der Halle

Schlafkabinen auf dem Spielfeld, Essen am Geräteraum, Waschmaschinen in der Umkleide: Seit Anfang des Jahres wohnen Flüchtlinge aus der Ukraine vorübergehend in der Schwallunger Sporthalle, manchmal sind es mehr Kinder als Erwachsene.

 
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Svitlana aus Izium ist vor vier Wochen in Schwallungen angekommen. Zusammen mit sieben ihrer Kinder. Die beiden großen sind in der Ukraine geblieben, erzählt sie über Dolmetscherin Nataliia, mit den sieben jüngeren hat sie sich auf den Weg nach Deutschland gemacht.

Für Svitlanas Familie haben sie in der Schwallunger Sporthalle zwei Kabinen zu einer großen umgebaut. Normalerweise stehen vier oder sechs Betten hinter den weißen Stellwänden, in der Doppelkabine sind es acht. Neben einem Stockbett liegt das Hab und Gut der Familie, verpackt in Taschen und Tüten. Setzen sich zwei größere Bewohner dieser Kabine gleichzeitig auf die Bettkante, berühren sich ihre Knie. Will die Familie fremde Blicke ausschließen, kann sie Vorhänge zuziehen, wie in einer Umkleide. Gegen die Geräusche können sie nichts machen. Sie kommen unter dem Vorhang durch, verteilen sich über die offene Decke.

„Tichii“, Leise!, ist deshalb auch eines der wichtigsten Worte für Birgit Glück. Nur wo es ruhig zugehe, könnten die Leute auch zur Ruhe kommen, meint die Leiterin des Projekts „Neustart“ der Lebenshilfe. In einer Unterkunft wie der Schwallunger Turnhalle sei das umso wichtiger, sagt Birgit Glück.

Tatsächlich ist es auffallend ruhig in der Dreifelderhalle, auch wenn keiner extra flüstert. 58 Menschen aus der Ukraine wohnten vergangenen Dienstag dort, etwa die Hälfte von ihnen Kinder. Vier Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Lebenshilfe sind vor Ort, sie kümmern sich tagsüber um die Menschen aus der Ukraine. Mandy Greifzu zählt zu ihnen, sie bastelt mit Kindern an den blau gestrichenen Bierzeltgarnituren. Manche Kinder malen, andere kuscheln auf den Matratzen vor der Sprossenwand. In diesem Karree zwischen Basketballkorb und Geräteraum, der jetzt als Essensausgabe dient, spielt sich das Leben der Hallenbewohner ab. Draußen im Gang stehen Jugendliche an einem Kicker, drinnen zielen sie auf den Basketballkorb. Birgit Glück, eine freundliche, quirlige Frau, die Tatkraft und Herzlichkeit ebenso ausstrahlt wie eine gewisse Autorität, hat einen weichen Ball besorgt. Der Lautstärke wegen.

Svitlana mit fünf ihrer Kinder. Foto: Sascha Willms

Auch Jeannette Erb wirft den Ball ins Netz. Die Schwallungerin kommt regelmäßig in die Halle, hilft mit, spielt mit. „Die Kinder sind total offen“, sagt sie. Und dass es ein Glück sei, dass es Leute gibt wie Frau Glück, mit dem Herzen auf dem rechten Fleck.

Birgit Glück mag Wortspiele mit ihrem Namen zur Genüge kennen, in diesem Fall lacht sie. Erfahrung in der Betreuung von Flüchtlingen aus der Ukraine hat sie mit dem Lebenshilfe-Team schon in der Multihalle in Meiningen gesammelt. In Schwallungen, wo sich der Frust über die Umnutzung der Sporthalle Ende vergangenen Jahres in einer Bürgerversammlung zum Teil deutlich zeigte, war sie etwas angespannt. Sie wusste nicht, was auf sie zukommen würde.

Anfang Januar kam der erste Bus mit 47 Personen in Schwallungen an. Bürgermeister Jan Heineck schaute vorbei, auch die Leiterin der Polizeiinspektion, Christiane Höfer. Zwei Tage später, zum ukrainischen Weihnachtsfest, meldete sich Gudrun Sickert aus Schmalkalden und lud die Menschen aus der Halle zu einem Lichterfest in die Schwallunger Kirche ein, zusammen mit Vertretern der benachbarten Berufsschule für Gesundheit und Soziales, zu der die Sporthalle gehört, unter ihnen Schulleiterin Constanze Arnold. Fast alle Hallenbewohner seien der Einladung gefolgt.

Als dann am Abend darauf die Schwallungerinnen Annemarie Groß und Anne Storandt in Halle kamen, einen Kindertisch und -stühlchen unter dem Arm, sei mit ihnen eine Tür aufgegangen. Das Bild der skeptischen Schwallunger „hat sich sehr gewandelt“, betont Birgit Glück und will das unbedingt erwähnt wissen. Die Schwallunger sammelten und spendeten Spielzeug und Anziehsachen, so viel, dass momentan noch genug übrig ist für weitere Ankömmlinge. Und es gibt Ehrenamtliche, die immer wieder vorbeischauen, wie Jeanette Erb.

Beim Übersetzen hilft Nataliia Huz. Sie weiß, wie es ist, in einer Hallenkabine zu leben, kam selbst im vergangenen Sommer in Meiningen an und verbrachte die erste Zeit in der Multihalle. Deutsch hat sie schon früher gelernt, jetzt verhalfen ihr die Sprachkenntnisse zu einem Job. Sie zählt zum Team der Lebenshilfe, beantwortet Fragen der Ankömmlinge, erklärt die Mülltrennung und die Waschmaschinen, dolmetscht die teils auch deutlichen Ansagen von Birgit Glück. Die hatte sich für die junge Frau eingesetzt, sie brauche so eine, habe sie deutlich gemacht. Jetzt sind die beiden ein Team.

Auf die blau gestrichenen Bierbänke haben sich Maxim, Lidiia und Nataliia gesetzt. Sie sind verwandt und gemeinsam aus Dnipro geflohen, in Schwallungen fühlen sie sich gut aufgenommen. Sie loben das Essen, dass es warm ist, und ruhig. Eine Wohnung würden sie sich wünschen, übersetzt Nataliia Huz, und: „Arbeit, Arbeit, Arbeit“. Auch einen Sprachkurs wollen sie gerne machen. Die Menschen wollen arbeiten, nicht nur herumsitzen, bestätigt Birgit Glück.

Leben in weißen Boxen in der Schwallunger Sporthalle. Foto: Sascha Willms

Doch die Plätze in Sprachkursen seien knapp, die Listen lang, bis zu einem halben Jahr müssten Interessenten warten. Wer aber nicht wenigstens ein A1-Sprachzertifikat besitzt und das Wichtigste versteht, bekommt kaum eine Arbeit. „Da muss sich was in der Politik tun“, sagt der Sprecher des Landratsamtes, Christopher Eichler. Er ist an diesem Dienstag mit dem Leiter der Ausländerbehörde, Mike Hemmann, nach Schwallungen gekommen. Hemmann ist zuständig für die Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen im Kreis, er kennt die Zahlen der Ankommenden und die der verfügbaren Wohnungen, er muss mit der Kluft zwischen Beidem irgendwie zurechtkommen und sei es mit Notunterkünften wie in Schwallungen. Vier bis zehn Wohnungen könne der Kreis im Monat akquirieren, legt er dar, benötigt würden 20. „Wir sind jeden Tag dran, Lösungen zu finden.“ In der Schwallunger Halle stehen 164 Betten, 73 war bislang die höchste Belegung. Vier mal kamen Busse an, zwischendurch war die Unterkunft zwei Tage lang leer. Kurzfristig zu reagieren, ist Alltag. „Ich rufe am Dienstag an und erfahre, was am Mittwoch passiert“, verdeutlicht Hemmann und spricht noch ein anderes „riesen Problem“ an: die ärztliche Versorgung der Ankömmlinge. Die Hausarztpraxen seien überfüllt, sie nehmen keine Patienten mehr auf.

Es wird Mittag, der Geruch nach Gulasch zieht durch die Halle. Das Essen wird geliefert und an der Ausgabe auf Papptellern verteilt, die blauen Zeltgarnituren werden zu Esstischen. Anschließend muss der Müll getrennt werden, Jugendliche ziehen sich Einweghandschuhe über und helfen.

Viel gibt es sonst nicht zu tun für die Hallenbewohner. Jeder hält seine Kabine selbst sauber, Besen stehen bereit und werden auch genutzt. Die großen Flächen und die Waschräume putzt eine Firma, sie kommt jeden Abend. Ein Spaziergang ins Gewerbegebiet ist bei den Bewohnern beliebt, ein Einkauf bei Norma schafft Abwechslung. Viele aber wollten vor allem reden, sagt Birgit Glück.

Die Lebenshilfe macht eine sehr gute Arbeit, betont Landratsamts-Sprecher Eichler. Frau Glück gibt das Lob zurück. Die Zusammenarbeit mit der Behörde sei sehr gut, mit Mike Hemmann könne man über alles sprechen, auch wenn die Themen schwierig seien.

Am Dienstag hatten beide noch eine Nachricht zu verkünden, Nataliia übersetzte. Svitlana und ihre sieben Kinder können noch am selben Tag umziehen. Ihr nächstes Zuhause auf Zeit werden zwei Zimmer in einem Haus der Lebenshilfe sein. Svitlana lacht und weint, ein bisschen, ganz leise.

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