Übermorgen – die Nachhaltigkeits-Kolumne Werden wir immer radikaler?

Julia Bosch

Beschäftigt man sich mit den Folgen des eigenen Lebensstils auf die Umwelt, trifft man immer mehr Entscheidungen für mehr Nachhaltigkeit. Werden es irgendwann zu viele?

 
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Wenn man im Supermarkt regelmäßig zu Hafermilch und anderen pflanzlichen Alternativen greift, kann Kuhmilch oder Wurst schnell merkwürdig schmecken. Foto: picture alliance / dpa/Arne Dedert

Stuttgart - Vor etwa einem Jahr habe ich mich für zehn Tage konsequent vegan ernährt. Das sollte eigentlich nur ein Experiment bleiben. Wenn du heute in meinen Kühl- und Vorratsschrank schauen würdest, könntest du die tierischen Produkte an einer Hand abzählen: ein paar Eier vom Bauernhof einer Bekannten, ein Glas Bio-Honig, einige Süßigkeiten mit „echter“ Milch. Alles andere ist rein pflanzlich.

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Vor wenigen Jahren noch Kurzstrecken geflogen

Zugleich ist es gerade mal vier, fünf Jahre her, da habe ich ohne mit der Wimper zu zucken auch Kurzstrecken mit dem Flugzeug zurückgelegt; nach Berlin und Brüssel zum Beispiel. Würde mir heute jemand erzählen, dass er oder sie ohne Not für eine Strecke innerhalb Deutschlands einen Flug bucht, fiele es mir wohl schwer, dies nicht zu kommentieren.

Ich habe also längst nicht immer so auf Nachhaltigkeit und unsere Umwelt geachtet wie heute. Zugleich merke ich, dass ich immer radikaler werde. Manchmal frage ich mich, ob dies schon zu radikal ist. Es war zum Beispiel ganz selbstverständlich, dass der Hefezopf zu Ostern vegan wird. Ich erlaube es mir nicht, innerhalb Stuttgarts mit dem Auto zu fahren. Und wenn ich eine neue Jeans brauche, kann daraus ein langer Prozess werden, weil ich nicht mehr in irgendeinen Laden gehen kann und mir eine Hose kaufe, die mir gefällt, sondern sie fair produziert oder – noch besser – secondhand sein soll.

Sehr vieles, was man ausprobiert, wird zur Gewohnheit

Was mir dabei auffällt: Fast alles, was ich einmal im Bereich Nachhaltigkeit und Umweltschutz ausprobiert habe oder worüber ich mich einmal informiert habe, wird zur Gewohnheit und bleibt in meinem Kopf. Es gibt dann kein Zurück mehr. Das tut unserem Planeten gut, mich persönlich nervt es manchmal aber auch. Dann denke ich mir: „Wie gerne ich jetzt einfach mit dem Auto fahren würde, statt umständlich mit Bus, Bahn oder Fahrrad durch den Schnee! Und wie ordentlich meine Haare vielleicht aussehen könnten, wenn ich mal wieder herkömmliches Shampoo verwenden würde!“

Es gibt aber auch Momente, in denen ich über diesen „anderen“ Lebensstil sehr froh bin. Ich wäre niemals so ausgeglichen, wenn ich nicht auch bei Schnee, Regen und Sturm Rad fahren würde. Es entlastet mich, dass ich nicht ständig im Internet nach neuen Produkten für meine Wohnung oder meinen Kleiderschrank suche. Und ich finde es sehr spannend, wie einfach wir tierische Produkte durch Pflanzliches ersetzen und uns auch daran gewöhnen können: Vor gar nicht langer Zeit fand ich den Geschmack von Hafermilch noch merkwürdig, heute bringe ich Kuhmilch kaum mehr runter.

Ja, der Einzelne kann den Unterschied machen

Wenn ich dann doch mal wieder an Regeln verzweifle, die ich mir selbst auferlegt habe, hilft es, mir solche Passagen wie aus dem hier verlinkten Artikel von meiner Kollegin Hanna in Erinnerung zu rufen: Die Klimaziele für 2020 sind nur durch die Einschränkungen im Zusammenhang mit der Coronakrise erreicht worden. Damit sich daran etwas ändert, spielt der Beitrag einer „kritischen Masse“ durchaus eine Rolle, sagt Michael Bilharz, Experte für nachhaltigen Konsum beim Umweltbundesamt. „Der Einzelne kann tonnenweise den Unterschied machen“, ist er überzeugt.

Vielleicht werden ich, du und ganz viele andere also tatsächlich immer radikaler, was Nachhaltigkeit betrifft. Vielleicht nerven wir andere und manchmal auch uns selbst mit unserer Lebensweise.

Wobei ich mir aber oft nicht sicher bin: Inwieweit dürfen und sollten wir unsere Erkenntnisse anderen Menschen mitteilen? Kann ich zum Beispiel einem Steak-Liebhaber sagen, dass es unserem Planeten helfen würde, wenn er seltener zu Rindfleisch greifen würde? Und ist es in Ordnung, einer passionierten Autofahrerin mitzuteilen, dass sie mit der Bahn fast genauso schnell bei ihrer Arbeitsstelle ankommen würde - und dies deutlich ökologischer wäre? Wenn ich in gewissen Situationen etwas sage, habe ich schnell das Gefühl, zu weit gegangen zu sein. Wenn ich aber nichts sage, habe ich womöglich eine Chance verpasst, eine Kleinigkeit zu verändern.

Wie gehst du da vor, wo liegt deine persönliche Grenze? Das würde mich sehr interessieren. Schreib mir gerne an julia.bosch@stzn.de.

Julia Bosch ist Reporterin für Stuttgart und die Region. Die 29-Jährige versucht, so umweltfreundlich wie möglich zu leben. Was sie sich aber regelmäßig fragt: Welche Maßnahmen bringen tatsächlich etwas – und welche beruhigen vor allem das eigene Gewissen?