Tumorerkrankte Marie aus Zella-Mehlis „Olaf rettet uns manche Male den Tag“

Erkrankt ein Kind an Krebs, ist nichts mehr wie es war. Auch bei Familie Ehrhardt aus Zella-Mehlis ist das so. Wie Avatar Olaf da ungemein hilft?

 
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Avatar Olaf ist im Unterricht dabei und somit auch Marie von zu Hause aus. Foto: Michael Bauroth

Nicht Marie, sondern Olaf heißt der Avatar, der statt der Siebenjährigen im Klassenzimmer der 2b in der Zella-Mehliser Lutherschule sitzt. Seit November hat er seinen Platz zwischen Evelyn und Elias in der zweiten Bankreihe. Von hier aus kann er das Tafelbild gut im Blick behalten. Seine Augen leuchten. Das ist das Signal für Klassenleiterin Alexandra Krauß, dass Marie von zu Hause am Unterricht teilnimmt, dass es ihr so gut geht, dabeisein zu können. Das ist nicht immer so, seit die tapfere Zella-Mehliserin an Krebs erkrankt ist und sich nach erfolgter Operation mit Entfernung einer Niere nun mitten in der Chemotherapie befindet. Zwischen den Blöcken und je nach Befund und Blutbild wechselt ihr zu Hause in der Familie mit Aufenthalten in der Klinik in Erfurt. Stets an ihrer Seite ist Mama Cathleen. Und Olaf.

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Wie Schneemann Olaf aus „Die Eiskönigin“

„Der Name passt“, findet Cathleen Ehrhardt, „schließlich sieht er ein wenig so aus wie Schneemann Olaf aus ‚Die Eiskönigin’.“ Mit glitzernden Aufklebern haben ihn Marie und Freundin Clara, die Olafs Patin in der Schule ist, noch eine persönliche Note verliehen. Nun trägt er Brille, hat Augenbrauen, einen Mund und das Herz am rechten Fleck auf dem Brustkorb seines weißen Plastikkörpers, oberhalb des Lautsprechers. Das kleine Loch über den Augen ist für die Kamera, die ausschließlich überträgt, nicht aufnimmt.

Über den Avatar täglich dabei

Jeden Morgen wird Olaf angeknipst. Dann richtet sich der leicht zur Seite geneigte Kopf auf. Hat auch Marie sich zugeschaltet, die vom Küchentisch aus mitarbeitet und über Olaf Bild und Ton aus dem Klassenzimmer auf das dazugehörige Tablet übertragen bekommt, leuchten seine Augen. Die tägliche Begrüßung gilt auch ihr, meistens bekommt sie ein separates „Guten Morgen, Marie“, bevor es in Mathe oder Deutsch losgeht. Eine weitere Herausforderung für die Klassenleiterin, die neben 22 Mädchen und Jungen auch den Avatar im Blick behält.

Dabei, trotz zwei Kilometer Entfernung

Während scheinbar jede Sekunde irgendwo im Klassenzimmer ein Arm nach oben schnippt, hat auch Marie – fast zwei Kilometer Luftlinie entfernt – die Möglichkeit, sich zu Wort zu melden. Drückt sie das Handzeichen im Menü an ihrem Tablet, leuchtet Olafs Schädeldecke im Klassenzimmer grün. „Marie, magst Du weiterlesen?“, fragt Alexandra Krauß in Richtung Olaf. Und schon ertönt über den Avatar ihre Stimme. Marie ist nicht zu sehen, aber zu hören, während sie einen Absatz aus „Prinzessin auf der Erbse“ vorliest. „Gut gemacht“, lobt die Klassenleiterin. Nacherzählen ist nun gefragt, bevor es weiter mit Verben geht. Wörter schreibt sie dafür an die Tafel. Nun sind wieder die Mädchen und Jungen am Zug, die herausfinden sollen, welche Verben sind. Olaf dreht seinen Kopf in Richtung Tafel, um ebenfalls „mitlesen“ zu können.

Unterricht vom Küchentisch aus

Auch in Mathematik ist Marie über Olaf Teil des Unterrichtes, wenn ihr Zustand es zulässt. Dann sitzt sie wieder mit ihrer Mama Cathleen, mit Federmappe, Heft und Buch am Küchentisch und arbeitet die gestellten Aufgaben ab. Schwierig ist es für sie, die Stillstandszeiten dazwischen zu überbrücken. „Am besten klappen Aufgabenblöcke, wenn Marie in ihrem Tempo gleich mehrere Aufgaben lösen kann“, sagt Cathleen Ehrhardt. Und sie ist schnell. Weiß Marie einmal nicht weiter oder benötigt Motivation, hilft Mama Cathleen weiter. „Für mich ist es wichtig zu sehen, wie Frau Krauß Aufgaben erklärt. So mache ich das dann auch. Olaf ist für uns Gold wert.“ Und das liegt ihr besonders am Herzen zu betonen.

24 Stunden, sieben Tage in der Woche

Einerseits hat Marie so die Möglichkeit, am Unterricht in den Hauptfächern in Zella-Mehlis, als auch von Erfurt aus teilzunehmen und weniger zu verpassen. Maries Ziel ist, mit ihren Klassenkameraden in die dritte Klasse zu wechseln. Doch bei allem Engagement der Mutti, die gleichzeitig Beschützerin, Chauffeurin, Begleiterin in allen Lebenslagen, Krankenschwester und jetzt zwangsläufig auch Lehrerin ist, ist Maries Akzeptanz nicht immer die, die sich Cathleen Ehrhardt wünschte. Denn auch als Ventil ist sie für Marie in schwierigen, in unklaren Situationen da und muss trotzdem immer stark und verständnisvoll sein. Besonders beim Thema Schule lauern überall Konflikte.

„Wer soll mich denn sonst beschützen?“

Der Balanceakt, nicht zu überfordern, ist ein täglicher. Die Chemotherapie setzt Marie ungemein zu. So platzt sie auch schon einmal ärgerlich heraus, dass es in der Schule viel schöner ist. Wieder erklärt Cathleen Ehrhardt geduldig. „Unser täglicher Kampf“, sagt sie, die auch nachts für Marie da ist, seit die Tochter nicht mehr ohne Mama schlafen kann, ihre Nähe, ihren Arm, das Kuscheln zur Sicherheit braucht. „Wer soll mich denn sonst beschützen?“, fragt Marie mit ungewöhnlichem Ernst für eine Siebenjährige.

Dass sie, die auf soziale Kontakte verzichten muss, über Olaf die Verbindung zur Klasse halten kann, ist von enormer Bedeutung. Auch für ihre Freunde. „Olaf ist cool. Aber ich vermisse Marie trotzdem“, sagt Emilia. Olaf gehört längst zum Unterricht dazu. „Er ist ungemein wichtig für Marie“, findet auch Alexandra Krauß. „Auch wenn es für mich schwierig ist, dass ich sie nicht sehen kann.“

Anfängliche Skepsis weicht Begeisterung

Wie funktioniert das? Wie ist die Nutzung rechtlich abgesichert? Welche Voraussetzungen müssen wir schaffen? Unklarheiten, die die Schulleitung bewegten, konnten mit Videos und Gesprächen geklärt, anfängliche Skepsis mit steigendem Wissen ausgeräumt werden. Das Einverständnis der Eltern aller Mitschüler wurde eingeholt. Denn auch die Schule begab sich mit Avatar Olaf auf Neuland. „Was im Zeitalter der Digitalisierung möglich ist, wenn alle an einem Strang ziehen, ist faszinierend, erleichtert vieles und macht Mut“, so Schulleiterin Carmen Boost.

Möglich macht seinen Einsatz der eingetragene Verein Elterninitiative leukämie- und tumorerkrankter Kinder Suhl / Erfurt, der seine umfangreiche Arbeit über Spenden finanziert, und bereits drei Avatar-Telepräsenzroboter im Wert von je 5000 Euro sowie dazugehörige Tablets für an Krebs erkrankte Kinder und Jugendliche kaufte.