Die Behörden leiteten daraufhin neue Untersuchungen auf See in die Wege. 2023 wurde dazu ein erster Zwischenbericht mit vorläufigen Einschätzungen veröffentlicht, die die Schlusssätze von 1997 im Grunde nicht infrage stellten. Es seien weder Anzeichen für eine Explosion an Bord noch für eine Kollision mit einem Schiff oder anderen schwimmenden Objekten entdeckt worden, schrieben die Ermittler. Und das große Loch, das die Evertsson-Doku entdeckte? Stammt den Untersuchungen zufolge vom Aufprall der Fähre auf dem harten Gestein des Meeresgrundes.
Seetüchtigkeit der Fähre
Eine zentrale Erkenntnis der vorläufigen Bewertungen hat Angehörige und Hinterbliebene jedoch aufhorchen lassen. "Die Havariekommissionen aus Schweden und Estland haben festgestellt, dass die "M/S Estonia" beim Auslaufen in Tallinn am 27. September 1994 nicht seetüchtig war", berichtet der SEA-Vorsitzende Lennart Berglund, dessen Schwiegereltern bei der Katastrophe ums Leben gekommen sind. Er fragt sich nun: "Wer trägt die Verantwortung dafür, dass sie trotzdem die Route Stockholm-Tallinn bedienen konnte?"
Für die Opfer- und Angehörigenstiftung ist die behördliche Erkenntnis zur Seetüchtigkeit der Fähre grundlegend für die Aufarbeitung der Tragödie. "Das verändert alle Voraussetzungen für den Umgang mit der "Estonia"-Katastrophe, sowohl politisch als auch rechtlich", heißt es von der Stiftung. Der schwedische Staat müsse nun endlich Klarheit schaffen, was die Katastrophe verursacht habe und wer dafür verantwortlich sei. "Nur die Wahrheit darüber, wie und warum das Schiff unterging und wie die Verantwortung dafür verteilt wird, kann die "Estonia"-Frage zu einem definitiven und würdigen Schluss bringen."