Verrohte Jugend?
Von der oft beschworenen Verrohung der Jugend will der Kriminologe nichts wissen: „Im langfristigen Vergleich hatten wir zwischen 2000 und 2005 deutlich höhere Jugendgewalt hier in Deutschland. Im Zeitraum zwischen 2007 und 2015 hat sie sich nach Zahlen der polizeilichen Kriminalstatistik sogar halbiert“, sagt Baier.
Es sei richtig, dass die Zahlen seit 2015 wieder leicht anstiegen, aber längst nicht auf das frühere Niveau. Baier weiter: „Letztlich verhalten sich Jugendliche heute gesitteter als vor 20 Jahren. Das Erscheinungsbild wird aber meist durch die geprägt, die Normen überschreiten. Sie sind sichtbarer und werden lauter wahrgenommen.“
Prävention ist wichtig
Selbst wenn Taten wie die in Salzgitter niemals ausgeschlossen werden könnten, sei es grundsätzlich richtig, alle Energie auch weiterhin in die Prävention unter Kindern und Jugendlichen zu investieren. „Es muss der Anspruch sein, Straftaten, insbesondere schwere Straftaten zu verhindern“, sagt Baier. „Dafür wurde in der Vergangenheit viel getan – Konfliktlösungs- oder Empathietraining in Schulen beispielsweise.“ Dieses Engagement dürfe nicht nachlassen.
Bis zum 14. Geburtstag gilt man in Deutschland vor dem Gesetz als Kind und kann nicht strafrechtlich belangt werden. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass Kinder noch nicht in der Lage sind, abzuschätzen, ob sie etwas Falsches tun und was für Konsequenzen das haben könnte. Sie können ihr Verhalten nicht entsprechend steuern. Aus diesem Grund können Kinder grundsätzlich nicht strafrechtlich belangt werden, Jugendliche dagegen schon.
Eine Frage der Strafmündigkeit
Ob letzteres zutrifft oder eine Schuldunfähigkeit vorliegt, muss auch im Fall in der Tatverdächtigen in Salzgitter juristisch geprüft werden. Vom 14. bis 18. Geburtstag gilt man als bedingt strafmündig. Ob das eher erzieherisch angelegte Jugendstrafrecht angewendet wird, ist vom jeweiligen Fall abhängig. Mit dem 18. Geburtstag tritt dann die volle Strafmündigkeit ein, inklusive einer Übergangszeit bis zum 21. Geburtstag, in der noch das Jugendstrafrecht greifen kann. In Frankreich beispielsweise wird das Jugendstrafrecht bereits für Kinder ab zehn Jahren angewendet, von 13 Jahren an können sie theoretisch auch zu Gefängnisstrafen verurteilt werden.
Wie werden Straftaten verhindert?
Eine meist reflexartig geforderte Verschärfung des Jugendstrafrechts hält der Kriminologe Dirk Baier für nicht zielführend. Die Forderung nach härteren und längeren Strafen würde meist nur dazu dienen, die Öffentlichkeit zufriedenzustellen. Straftaten würden damit nicht verhindert werden. „Ich glaube, die Diskussion braucht es derzeit nicht, schon gar nicht festgemacht an einem einzigen Fall“, sagt Baier. „Man muss sich auch stückweit davon verabschieden, dass ein 13-Jähriger nach so einer Tat ganz normal sein Leben weiterleben kann, weil er noch nicht strafmündig ist.“