Keula/Jena - Das von der Landesregierung verfolgte Ziel von fünf Prozent Waldwildnis in Thüringen ist nach Einschätzung des Jenaer Biologen Ernst-Detlef Schulze obsolet. Werde der Wald aus der forstwirtschaftlichen Nutzung genommen, entwickelten sich vor allem Buchen-Monokulturen, sagte der einstige Gründungsdirektor des Max-Planck-Instituts für Biogeochemie. «Letztlich setzt sich Umweltministerin Siegesmund dafür ein, Biodiversität zu verringern und Artenvielfalt zu vernichten.»

In Thüringen wird heftig über mehr Waldwildnis gestritten. Sie stehen dem als Biologe kritisch gegenüber - warum?

Weil gut erforscht ist, was passiert, wenn Wälder aus der Nutzung genommen werden. Und das ist mit Blick auf die Artenvielfalt nicht unbedingt positiv. Man kann zum Beispiel nach Rumänien fahren und sich den Nationalpark Nera anschauen. Da sieht man: Es bleibt letztlich nur eine Baumart übrig: die Buche. Auch bei uns gibt es alte Buchenwälder, wie die Heiligen Hallen, den Serrahn oder den Kellerwald, aber dies sind alles alte Staatsjagdgebiete. Und schauen Sie sich hier um ...

Hier gibt es fast ausschließlich Buchen, dort liegt ein toter Baum und am Boden wächst reichlich Bärlauch.

Wir haben hier ( im nordthüringischen Keula - d.Red.) eine fünf Hektar große Naturwaldparzelle, die in den 1960er Jahren ausgewiesen wurde. Wenn die Buchen ausgetrieben haben, ist das eine dunkle Halle. Von der pflanzlichen Artenvielfalt her gibt es kaum etwas außer Buchen. Ohne Eingriffe des Menschen entsteht kein artenreicher Mischwald, sondern eine Buchen-Monokultur. Es leidet auch die Bodenvegetation, in der viele seltene Arten auf Licht angewiesen sind.

Woran liegt das?

Zum einen verdrängen Buchen von Natur aus andere Baumarten, weil sie höher wird als die Nachbarn, und weil sie stärker in die Breite wachsen. Zum anderen ist die hohe Wilddichte ein Problem. Die Buche hat den Vorteil, dass sie viele Seitenknospen bildet. Und die Gipfelknospe richtet sich im Frühjahr erst spät auf. Daher wird der für die Bäume so wichtige Mitteltrieb nicht so stark von Rehen verbissen. Andere Baumarten wie Ahorn und Esche werden dagegen viel stärker verbissen, so dass am Ende nur die Buche übrig bleibt.
ZUR PERSON
Professor Ernst-Detlef Schulze (75) ist Gründungsdirektor des Jenaer Max-Planck-Instituts für Biogeochemie und inzwischen emeritiert. Der studierte Förster und Biologe forscht seit Jahrzehnten zur Waldökologie und bewirtschaftet selbst Wälder in Nord- und Südthüringen.

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Dennoch schickt sich Rot-Rot-Grün an, den Koalitionsvertrag umzusetzen und fünf Prozent des Waldes aus der Nutzung zu nehmen.

Der Koalitionsvertrag bezieht sich an diesem Punkt nicht auf bereits vorhandenes Sachwissen. Letztlich setzt sich Umweltministerin Siegesmund dafür ein, Biodiversität zu verringern und Artenvielfalt zu vernichten. Ich bin keinesfalls gegen einen Naturschutz, der die Besonderheiten in unserer Landschaft kennt und erhält. Es zeigt sich aber, dass für die meisten Organismen die Kontinuität von Habitaten und auch von Störungen wichtiger ist als der Schutzstatus.

Das Fünf-Prozent-Ziel ist aber kein Thüringer Alleingang, sondern in der nationalen Biodiversitätsstrategie von 2007 verankert.

Zielvorgabe der Biodiversitätsstrategie ist - ich zitiere - «Bis 2010 ist der Rückgang der Biodiversität gemäß dem EU-Ziel von Göteborg in Deutschland aufgehalten. Danach findet eine positive Trendentwicklung statt.» Dazu gibt es eine Reihe von Maßnahmen. Eine davon ist, dass sich zwei Prozent der Landesfläche in Wildnis verwandeln soll, bezogen auf den Wald sind fünf Prozent vorgesehen. Das ist die Grundlage. De facto ist die Fünf-Prozent-Vorgabe eine nachgeordnete Maßnahme, um das Ziel einer positiven Entwicklung der Artenvielfalt zu erreichen. Studien zeigen: Der Forst hat dieses Ziel längst erreicht und die fünf Prozent Waldwildnis sind damit obsolet.

Auf welche Untersuchungen stützen Sie das?

Als Indikatoren für die Artenvielfalt werden vom Bundesamt für Naturschutz die Vögel vorgeschlagen, weil sie auf Umwelteinflüsse sehr empfindlich reagieren und das oberste Ende der sogenannten trophischen Pyramide sind, bei der der Obere den Unteren frisst. Das Bundesamt hat 2012 einen Artenschutzreport publiziert und darin elf Vogelarten ausgewählt, um den Zustand des Waldes zu messen. Und da sehen sie: Sein Zustand ist seit 1970 konstant gut. Es gibt eine weitere Natura-2000-Untersuchung mit 29 Vogelarten und den europäischen Waldatlas, der 34 Waldvögel untersucht hat. Egal wie viele Vogelarten ich nehme, der Wald ist anscheinend konstant gut. Um Raum für positive Entwicklung zu geben, hat das Bundesamt das konstante Niveau der Vogelpopulationen auf 80 Prozent eines sogenannten Zielwertes subjektiv skaliert.

Denn eine konstante Entwicklung reicht nicht, die Biodiversitätsstrategie verlangt einen positiven Trend.

Wenn ich diese Vögel sortiere, dann gibt es Exemplare wie den Schreiadler und den Schwarzstorch, die im Wald brüten, aber große Grünlandflächen brauchen zum Jagen. Insofern sind hier Vögel zugeordnet, die keine reinen Waldvögel sind. Ich habe mir die Mühe gemacht, die Waldspezialisten herauszufiltern, die keine Zugvögel sind. Denn unser Wald ist ja nicht dafür verantwortlich, dass in Südeuropa Zugvögel gefangen werden und was in Afrika passiert.

Nun zeigt sich, dass es bei allen Waldvögeln große Zunahmen gibt bis auf zwei Arten: Der Kleinspecht und der Gimpel. Alle anderen Waldvogelarten haben gewaltig zugelegt. Berücksichtigt man das, hat der Forst ausgehend von dem 80-Prozent-Wert nunmehr einen Wert von mehr als 120 Prozent seit 1980 erreicht. Bei Vögeln als Indikator hat er demzufolge die Biodiversitätsziele übererfüllt - auch ohne Waldwildnis. Auf mehr Waldwildnis kann man also verzichten.

Doch es gibt offensichtlich bei vielen Menschen einen Wunsch nach unberührter Natur. Und Naturschützer verweisen auf den Bedarf an Totholz als Nahrung und Lebensraum von Mikroorganismen und Käfern.

Der Forst hat es geschafft, eine Struktur zu entwickeln, in der es mehr Artenvielfalt gibt als in einem Wald, der sich selbst überlassen ist, in dem die Bäume im Schnitt älter werden und mehr Holzvorräte zusammenkommen als in den Naturwaldreservaten von Südosteuropa. Der Forst leistet einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz, indem Holz als nachwachsender Rohstoff fossile Brennstoffe ersetzt. Und wir dürfen nicht vergessen: Wenn wir durch Flächenstilllegungen weniger Holz schlagen, dann muss es stattdessen - ändern wir unseren Lebenswandel nicht - importiert werden, etwa aus borealen Wäldern Osteuropas, Asiens und Nordamerikas. Und auch bei Totholz schneidet die im Naturwald dominierende Buche schlecht ab.

Das müssen Sie genauer erklären.

Ich habe dazu einen Großversuch angelegt mit allen wichtigen Wirtschaftsbaumarten, die bei unterschiedlicher Bewirtschaftung in verschiedenen Wäldern ausgelegt wurden. Nun wird untersucht, welche Käfer, Pilze und Algen sich ansiedeln. Das Ergebnis ist verblüffend: Wir brauchen für Artenvielfalt keine großen Mengen an Totholz, sondern wir brauchen ganz bestimmte Baumarten, die von Käfern geliebt werden. Die wichtigste ist die Hainbuche, die anders als ihr Name sagt, nicht zur Familie der Buchen, sondern zu den Birkengewächsen zählt.

Die Hainbuche kommt in Naturwaldreservaten nicht vor, sie ist eine alte Wirtschaftsbaumart. An zweiter Stelle der bei Käfern besonders beliebten Bäume steht übrigens die Fichte. Auch seltene Käferarten richten sich nach der Holzart und nicht nach der Menge an Totholz. Aber warum sollen Käfer nicht wie wir nach Geschmack gehen?

Interview: Andreas Hummel