Ohnehin verbindet sie den Begriff Heimat nicht zwangsläufig mit einem festen Ort. Für sie bedeutet Heimat vielmehr der Zusammenschluss mit Menschen, mit denen sie gleiche Erfahrungen teile. „Ich würde sagen, wir Menschen mit Migrationshintergrund teilen alle in gewisser Weise gleiche ‚traumatische Erfahrungen‘ - das schafft eine starke Verbundenheit.“ Und weil sie diese Begegnungen mit Gleichgesinnten vor allem in Deutschland erlebe, fühlt sie sich hier auch stärker zugehörig.
Man bleibt immer das Kind von Migranten
„In der Türkei bin ich die Deutsche, in Deutschland die Türkin – das ist, glaube ich, ein Satz, den jeder Migrant bestätigen kann.“ Auch wenn man in Deutschland geboren sei, bleibe man das Kind von Migranten – und suche sich dementsprechend „seinesgleichen“. Das sei kein rein deutsches Phänomen, sondern in Ländern wie Frankreich oder England ähnlich.
Doch woher kommt dieser plötzliche Konflikt innerhalb der türkischen Jugend? Handelt es sich um eine neuere Erscheinung – oder hat es diese Spaltung schon immer gegeben und tritt nun lediglich aufgrund von Social Media deutlicher zutage?
Naika Foroutan ist Professorin für Integrationsforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin und Direktorin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung. Sie untersucht, wie sich Einwanderungsgesellschaften verändern und welche Rolle Identität, Partizipation und Diskriminierung dabei spielen.
Konflikte gabe es in jeder Generation
Die Expertin sagt, dass Konflikte zwischen der Diaspora und den im Herkunftsland verbliebenen Menschen kein neueres Phänomen sei. Das habe es schon immer gegeben – und zwar unabhängig von Nationen. Während sich Sprache, Normen und kulturelle Ausdrucksformen im Herkunftsland weiterentwickeln, blieben diese Veränderungen in der Diaspora oft aus oder verliefen deutlich langsamer.
„TikTok-Fight“ für Deutschtürkinnen kränkender
In jüngster Zeit sei vor allem bei jüngeren Migrantinnen und Migranten ein „globaler Trend zur Ethnisierung“ zu beobachten. In einem Klima, das zunehmend von antimuslimischem Rassismus geprägt ist, wachse eine Generation heran, die - geprägt von der Sarrazin-Debatte - in einer Gesellschaft lebe, in der sie nie ganz dazugehört habe, so Foroutan. Sie hätten miterlebt, wie sehr ihre Eltern für ein neues deutsches „Wir“ gekämpft hätten – und wie wenig davon geblieben sei. „Also versucht man eine andere Strategie: sich stärker zu visibilisieren und als türkischstämmig, muslimisch oder arabisch erkennbar zu sein“, so Foroutan.
Der ‚TikTok-Fight’ sei deswegen so kränkend für Deutschtürkinnen, weil sie plötzlich das Gefühl haben: Hier in Deutschland gelten sie als Türkinnen, aber in der Türkei gelten sie nicht als Türkinnen. „Das löst bei ihnen ein Gefühl des doppelten Identitätsbruchs aus, dass sie sich nirgendwo zugehörig fühlen“, erklärt die Expertin.
Dass sich der Konflikt ausgerechnet an einem Schminkstil entzündet, mag auf den ersten Blick oberflächlich erscheinen, ist es aber nicht. Foroutan sieht darin ein klares kulturelles Signal: eine Absage an das Bedürfnis, als „deutsch“ erkannt zu werden. „Jugendkultur ist derzeit sehr stark davon geprägt, bloß kein ‚Alman‘ zu sein“, sagt sie. Der Wunsch, unbedingt als Deutsche oder Deutscher anerkannt zu werden – wie er in früheren Generationen noch zentral war – sei bei vielen Jugendlichen verschwunden. „Stattdessen zeigen sich Jugendliche mit Migrationsgeschichte heute ganz bewusst als ‚Ausländer‘ - und das durchaus selbstbewusst“, so die Expertin.