Schwallungen Die Erlebnisse der kleinen Leute

Annett Recknagel
Das History Mobile beschäftigt sich in seinem Pilotprojekt mit der Thüringischen Sozialgeschichte von Januar bis September 1945 – Michael Luick Thrams erklärte, Bürgermeister Jan Heineck hörte interessiert zu. Foto: Annett Recknagel

Zum Museumsfest machte das History Mobile in Schwallungen Station, um Zeitzeugenberichte rund um das Kriegsende 1945 aufzunehmen.

 
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Noch gut erinnert sich Ludwig (Lutz) Kirchner an die Phosphor-Bombenangriffe in Kassel. Im Kindesalter war der gebürtige Gothaer kurz vor Kriegsende mit seinen Eltern dorthin gezogen. Sein Vater war zum Kriegsdienst verpflichtet worden. Wegen der vielen Bomben sei seine Mutter immer sehr ängstlich gewesen. Er habe sich niemals sehr weit weg vom Haus begeben dürfen, um im Angriffsfall immer rechtzeitig in den Keller flüchten zu können. Irgendwann wurden es zu viele Bomben. Kinder und Frauen mussten raus aus der Stadt. Lutz Kirchner kam mit seiner Mutter in Schwallungen bei Verwandten unter. Bei Abfahrt in Kassel sah der kleine Junge damals die Leichenberge. „Ich habe die Hand einer Frau, an der ein Täschchen hing, noch vor Augen“, berichtete er am Samstagnachmittag im Regionalmuseum in Schwallungen. Das alles wurde aufgenommen, um es für die Nachwelt festzuhalten.

Hinter dieser Aufgabe steht der Verein Spuren e. V. mit dem Geschichtsprofessor Michael Luick Thrams an der Spitze. Zum Museumsfest hatte er das History Mobile mit dem Pilotprojekt 9 Monate / 3 Systeme=Millionen von Schicksalen mitgebracht. Beleuchtet wird die Thüringische Sozialgeschichte von Januar bis September 1945. Die drei Systeme sind Nazismus, Amerikanismus und Sowjetismus. „Was uns interessiert, sind die kleinen Leute der Geschichte“, erklärte Michael Luick Thrams und fügte hinzu: „Was passierte Tante Irmgard? Was haben die Schüler unter den Sowjets gelernt? Was hat man im Radio gehört? Was hat man gegessen?“ Bei all dem seien echte Dokumente die Schwerpunkte der Arbeit.

Das History Mobile tourt seit September 2021 durch Thüringen und bereiste bereits 60 Anlaufpunkte, Städte und kleinere Orte. Am 11. August wird das erste Projekt in Saalfeld beendet. Das zweite wird den 17. Juni 1953 näher untersuchen und ist bereits in Arbeit. Auch hier interessieren wieder die Menschen. Am Pilotprojekt waren zahlreiche Studenten beteiligt, alles das ist auf den Außenwänden des History Mobiles nachzulesen. „Wir sehen uns als Brücke zwischen dem Elfenbeinturm und dem Volk“, meint Thrams . Sozialgeschichte werde immer über Biografien geschrieben. „Die Menschen sind nur Stellvertreter ihrer Zeit.“ Mit Hilfe des History Mobiles könne die Geschichte in alle Ecken Thüringens gebracht werden. In Schwallungen war es die erste Veranstaltung auf dem neuen Platz vor dem Regionalmuseum.

Zudem hatte Ortschronist Peter Pilz einige Zeitzeugen mobilisieren können, die bereitwillig ihre Geschichte aufs Band sprachen. Auch stellten etliche Schwallunger alte Dokumente zum Ablichten zur Verfügung. Für den Verein war das sehr wertvoll. Auf diese Weise entsteht ein digitales Archiv.

Michael Luick Thrams und seine beiden Helferinnen waren dankbar für das Erzählte. Lutz Kirchner beispielsweise erzählte, wie er das Kriegsende in Schwallungen erlebt hat. Unter anderem erinnerte er sich an den Mai 1945, als die Deutschen die Werrabrücke sprengten. Als Kind habe er im dortigen Bereich immer gespielt. Die Sprengung sei sinnlos gewesen. Die amerikanischen Panzer, die aus Richtung Zillbach gekommen seien, wären ohne Halt durch die Werra gefahren. Später sei von amerikanischen Pionieren eine Behelfsbrücke gebaut worden. Damals war Kirchner sechs Jahre alt. Die Amerikaner habe er als freundliche Menschen in Erinnerung. Den Kindern hätten sie oft Schokolade zugesteckt. Später seien die Russen gekommen – in Panjewagen, gelebt hätten sie in Baracken am Bahnhof. Auch von seinen ersten Schuljahren erzählte Kirchner. Nach Kriegsende begann die Schule am 1. November. In den Anfangsjahren waren Umsiedler Lehrer. Erst in der vierten Klasse hatten Neulehrer unterrichtet. „Ich bin sehr gerne zur Schule gegangen“, sagte er.

So wie Ludwig Kirchner lieferten im Laufe des Nachmittags noch andere Zeitzeugen ihre Erlebnisberichte ab. Freilich gab es auch die Möglichkeit, sich im Regionalmuseum umzuschauen. Und für das leibliche Wohl war auch bestens gesorgt. Bürgermeister Jan Heineck lobte das Engagement von Ortschronist Peter Pilz, unter dessen Federführung das Regionalmuseum Werratal aufgebaut worden ist. Außerdem habe er sich um die Zeitzeugen bemüht. Deren Berichte würden dazu beitragen, dass Schwallungen ein klein wenig mit Geschichte schreiben darf

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