Denn die Strukturen und Entscheidungen im DDR-Sport seien in einer Demokratie nicht möglich gewesen: "Das fängt beim staatlichen Dopingsystem an." Dazu gehörte aber auch die Stasi-Überwachung von Athleten und Trainern oder eine zwangsweise Talentauslese an Schulen sowie eine Heerschar von rund 10 000 hauptamtlichen Trainern und Mitarbeitern für die "Diplomaten im Trainingsanzug" der DDR in Zeiten des Kalten Krieges. "Alles wurde dem Ziel, den sportlichen Triumph über den Klassenfeind feiern zu können, untergeordnet", merkt Dagmar Freitag (SPD), Vorsitzende des Sportausschusses im Bundestag, an.
Mit der Einheit seien auch die Machenschaften verantwortungsloser Ärzte und Trainer im Westen ans Licht gekommen. "Werte des Sports wurden ebenso mit Füßen getreten, schwere gesundheitliche Beeinträchtigungen in Kauf genommen, hüben wie drüben", urteilt Freitag. "Die viel beschworenen Selbstreinigungskräfte des Sports standen nach meiner Wahrnehmung zu keinem Zeitpunkt an der Spitze der Bewegung." Zu groß sei die Euphorie im wiedervereinigten deutschen Sport gewesen, "mit einem Schlag in der ersten Reihe der Medaillensammler stehen zu können", was sich jedoch "schnell als Irrglaube" erwiesen habe.
"Von bloßer Addition im Medaillenspiegel auszugehen, wäre naiv gewesen", sagt Jürgen Kessing, Präsident der deutschen Leichtathleten. "Wo vorher zweimal drei Startberechtigungen vorlagen, gab es plötzlich nur noch einmal drei Startplätze je Disziplin, was zur Reduzierung der Medaillenchancen führte." In Sachen deutsche Einheit hält er die Integration in seiner Sportart für erfolgreich, wenn auch nicht alles richtig gemacht worden sei. "So ist es bis heute nicht gelungen, in der Rekorddiskussion neue Wege zu gehen", sagt er mit Blick auf irrwitzige Bestmarken aus den Doping-Hochzeiten.
Die Aufarbeitung der Doping-Vergehen in den vom Molekularbiologen Werner Franke initiierten Prozessen in den 1990er Jahren ist laut Braun einzigartig gewesen: "Es ist eine enorme Leistung, nicht nur auf die Mauerschützen an der innerdeutschen Grenze geblickt zu haben, sondern dass auch Vergehen im Sport juristisch hinterfragt wurden." Außerdem hält die Historikerin in der Bilanz der deutschen Sport-Einheit nicht den Spitzen-, sondern den Breitensport für "das Allerwichtigste". Aktuell sind rund 27 Millionen Mitglieder in etwa 90 000 Vereinen organisiert. In der DDR gab es kein freies Vereinswesen, sondern einen staatlich gelenkten Betriebssport. Das musste neu geschaffen werden.
"Insofern kann man für den Breitensport sagen: Es ist mittlerweile zusammengewachsen, was zusammengehört. Es war die Rückkehr der Zivilgesellschaft in den sportlichen Alltag", urteilt Braun. Für sie lässt sich darüber hinaus eine generelle Lehre aus dem DDR-Sport ziehen: "Die Anzahl an Medaillen, die ein Staat erbringt, ist kein zuverlässiger Indikator für das Ausmaß an Freiheit, Gerechtigkeit, Wohlstand und Zufriedenheit in einer Gesellschaft."
Der vielfältige Breitensport hat für Hörmann "genauso viel Strahlkraft wie die andere Seite der Medaille, die großen Vorbilder an der Spitze". Das deutsche Team kämpfe weiterhin um Medaillen, im Mittelpunkt stehe jedoch die Art und Weise: "Ist der Erfolg sauber und fair errungen?"
Die positiven Aspekte des leistungssportlichen DDR-Erbes seien inzwischen fast aufgebraucht. "Mit der 2016 verabschiedeten Leistungssportreform sind wir nun 30 Jahre nach der Wiedervereinigung auf einem guten Weg, das gesamtdeutsche Sportsystem für die Zukunft fit zu machen", verdeutlicht Hörmann.