Erfurt – Eigentlich lebte er ein Leben, das durch und durch in „bürgerlichen Verhältnissen“ verhaftet war. Das sagt der Mann selbst so, der da auf der Anklagebank sitzt, nachdem er mit einem Aktenordner vor dem Gesicht in den Verhandlungssaal geführt wurde. Er war verheiratet, war verbeamtet, hat zwei Kinder.
 
Selbst nach der Scheidung von seiner ersten Frau ging es für ihn bürgerlich weiter: Mit seiner neuer Lebensgefährtin bezog er nach eigenen Angaben schließlich in eine etwa 140 Quadratmeter große Wohnung im noblen Erfurter Dichterviertel. Und als wäre das noch nicht bürgerlich genug: Die Kinder des Mannes besuchen eine Waldorfschule, man fährt einen Mittelklasse-Wagen. Noch bürgerlicher – man könnte fast schreiben „gutbürgerlicher“ – geht kaum.
 
Nach dem, was der Mann am Dienstag in Erfurt vor dem dortigen Landgericht erzählt, war das allerdings vor allem eine Fassade. Eine, hinter der sich so viele Beziehungskonflikte anstauten, bis die Situation eskalierte. Um bald darauf noch mehr zu eskalieren. Erst ging eben seine Ehe zu Bruch. Dann soll der Mann nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft Erfurt auch gegenüber seiner – aus heutiger Sicht – Ex-Lebensgefährtin übergriffig geworden sein. Mehrmals.
 
Im Kern dieses Verfahrens vor dem Landgericht steht einer dieser mutmaßlichen Übergriffe. Der 43-Jährige soll der Lebensgefährtin im August 2020 mit einem 20 Zentimeter langen Messer das Gesicht zerschnitten haben. Die Frau, sagt die Staatsanwältin bei der Verlesung der Anklage, habe bei dem Übergriff mehrere Schnittverletzungen davon getragen haben. Eine davon 13 Zentimeter lang und tief, eine andere acht Zentimeter.
 
Zusätzliche Brisanz erhalten die Vorwürfe gegen den Mann dadurch, dass er bis vor wenigen Tagen ein Thüringer Polizist war – was selbst für seinen Verteidiger nur schwer verständlich ist. Der Mann habe seit Jahren versucht, in den Ruhestand versetzt zu werden, weil er psychische Probleme habe, sagt der Anwalt beim Prozessauftakt am Morgen. Darüber habe sein Mandant in der Vergangenheit auch bereits mit Polizeiärzten gesprochen. Er habe die Versetzung in den Ruhestand für seinen Mandanten trotzdem erst gerichtlich durchsetzen müssen. Sie sei nun Ende Januar 2021 wirksam geworden. Derzeit prüfe die Polizei, ob sie die Versorgungsbezüge des Mannes reduziere.
 
Ehe der Mann am späten Nachmittag dazu aussagt, ob der Kernvorwurf gegen ihn aus seiner Sicht zutrifft, stellt er sich über Stunden und Stunden hinweg vor allem als Opfer dar. Als Opfer seiner Ehefrau, die er als unberechenbar beschreibt. Als Opfer seiner Lebensgefährtin, der er vorwirft, seit 2019 geplant zu haben, ihn aus seiner Wohnung zu drängen, seine Wertsachen zu unterschlagen. Die Frau sei sehr dominant. Sie sei es gewohnt, dass Männer für sie Dinge erledigten. „Es war mir dann irgendwann zu viel“, sagt der Mann irgendwann in diesen Stunden. Im Mai 2020 habe es deswegen ein heftiges Streitgespräch zwischen ihm und seiner Lebensgefährtin gegeben, das in einer Rangelei zwischen beiden und ihrer Trennung geendet habe. Bei der Rangelei habe sich die Frau auf ihn gestürzt, er habe sie mehrfach zurückgestoßen, dann gepackt und ins Schlafzimmer gestoßen. Anders als es die Staatsanwaltschaft darstellt, habe er sie aber nicht im Schlafzimmer eingeschlossen.
 
Wieder und wieder geht das so. Er habe für beide Frauen für Wohnraum gesorgt, sie hätten es ihm nicht gedankt. Er habe sich um die Tochter seiner Lebensgefährtin gekümmert, auch das sei ihm nicht gedankt worden. Und so weiter. Unterbrochen wird diese Opferdarstellung nur durch die Vorsitzende Richterin der zuständigen Kammer, die immer wieder darauf verweist, dass laut Aktenlage nicht nur seine Ex-Lebensgefährtin die Sache ganz anders darstellt. Der Angeklagte reagiert darauf mit immer neuen mutmaßlichen Detailangaben aus seinen Beziehungen.
 
Als es an diesem ersten Verhandlungstag in dem Prozess schließlich nach etwa sechs Stunden um den Kernvorwurf geht, erklärt der Mann, er könne sich an die mutmaßliche Tat nicht mehr erinnern. Er wisse zwar noch, dass er am Morgen des Tattages bei seinen Eltern gewesen und einen Streit mit seinem Vater gehabt habe. Auch wisse er, dass er dann „wie blöd nach Erfurt gefahren“ sei. Was dort passierte, daran habe er aber keine Erinnerungen mehr. Die setzten erst später am Tag wieder ein, dann, als seine Ex-Lebensgefährtin schon schwer verletzt worden war.
 
Ein Geständnis ist das nicht.