Polizist mit Schminke: Suhler Kommissar im Rock

Das Internet fetzt sich um den ersten Polizeiruf-Kommissar im Rock. Was kaum jemand weiß: Der Schauspieler André Kaczmarczyk ist in Suhl geboren und hat hier seine Kindheit verbracht. Wie auch immer man zu Kriminalpolizisten mit Eyeliner steht: Am Sonntag hat der Krimi Traumquoten eingefahren. Jeder vierte Zuschauer wollte den Jungen aus Suhl sehen. Unsere Bildergalerie zeigt auch, wie Kaczmarczyk ohne Rock aussieht. Beim Tatort scheint sich derweil ein schwules Ermittlerteam anzukündigen.

 
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Suhl - Das hat Deutschland noch nicht gesehen: Einen „genderfluiden“ Ermittler im Rock, mit schwarzem Augenstrich und wallender Frisur. Im Internet gehen die Meinungen auseinander, aber die Fernsehquoten sind eindeutig: 8,44 Millionen und damit jeder vierte Zuschauer sahen am Sonntag „Hildes Erbe“auf der ARD. Und die Gerüchteküche brodelt schon weiter: Die beiden Tatort-Kommissare Leo Hölzer und Adam Schürk sollen künftig als Liebespaar auftreten, berichtete die „Bild“-Zeitung. „In den kommenden Drehbüchern soll die Beziehung ausgebaut werden“, heißt es. Schauspieler Vladimir Burlakov, der Hölzer spielt, hatte sich im vergangenen November selbst als schwul geoutet, in dem er zusammen mit seinem Lebenspartner die Gala „GQ Men of the Year“ besuchte.

André Kaczmarczyks Familienleben steht weniger im Rampenlicht. Geboren wurde er 1986 in der damaligen DDR-Bezirksstadt Suhl. Sein polnischer Vater kehrte später in sein Heimatland zurück. Sein Stiefvater – „eine typische DDR-Nachwende-Absteiger-Geschichte“ – ertränkte den Verlust der Selbstachtung in Alkohol und kompensierte Frustrationen durch Gewalt. Opfer war der Halbwüchsige. „Nach der Trennung der Eltern wuchs André Kaczmarczyks in eher schwierigen Verhältnissen auf“, heißt es beim Kulturportal „www.kulturwest.de“.

„Er wuchs in die Post-Wende hinein auf. Öde Orte. Angehende Wendeverlierer. Gewalt. Einsamkeit. Fremdheit“, berichtete „Die Welt“. Als der Suhler Junge neun ist, zieht die Familie nach Eisenach. „Prekär ist die Situation. Soziale Kontakte hat André Kaczmarczyk kaum“, so die Tageszeitung. Der Jugendclub des Freien Eisenacher Burgtheaters wird seine Rettung, seine zweite Heimat.

Über seine Jugendjahre berichtete der Schauspieler bei „www.kulturwest.de“: „Ich dachte, ich bin falsch.“ Doch hat er die lange für ihn geltende Überzeugung ins Positive gewendet und offensiv umgemünzt: „Okay, ich bin falsch!“ Auf dem Eisenacher Mälzerei-Gelände gründete sich ein freies Theater. „Das war meine Rettung“ vor den „dunklen Jahren“ in der Familie. Da habe man weggeguckt, etwa, wenn er blaue Lackschuhe aus dem Fundus trug. Man habe es aber zugelassen.

Nun trägt er sogar Rock als Ermittler im Polizeiruf „Hildes Erbe“, der am Sonntagabend in der ARD lief. Der Inhalt: Ein toter Student, eine hartherzige Großmutter mit viel Bargeld und eine eifrige Pflegerin: So sieht der Mordfall aus, in den der neue „Polizeiruf“-Kommissar Vincent Ross noch vor Dienstantritt verwickelt wird. Der aktuelle Fall von der deutsch-polnischen Grenze erzählt eine komplexe Geschichte, die tief in familiäre Abgründe schaut.

Bei den Ermittlungen hat Kriminalhauptkommissar Adam Raczek (Lucas Gregorowicz) seinen neuen Kollegen Ross (André Kaczmarczyk) an der Seite, der frisch von der Polizeischule kommt. Ross hat ganz eigene Arbeitsmethoden und Ansichten von der Welt, die in Adam ein Wechselbad der Gefühle auslösen. Hat er doch genug eigene Baustellen: Seine zunehmende Tablettensucht bleibt auch Vincent nicht verborgen.

Ross hat sich vor seinem ersten Arbeitstag eine Wohnung in Słubice, der polnischen Seite von Frankfurt/Oder, besorgt. Von Mietern wie dem 22-jährigen Bastian Grutzke wird er freundlich aufgenommen. Wenig später wird der Student ermordet in seiner Wohnung aufgefunden. Ermittler Adam Raczek, der Zeugen am Tatort befragt, staunt nicht schlecht, als er dort seinem neuen Kollegen begegnet. Befremdlich scheint Adam zunächst der Rock, den der queere Vincent trägt. Überhaupt hat Adam sich seinen Partner so nicht vorgestellt. Sein Gegenüber hat mehr Feingefühl und ist nicht so impulsiv wie er selbst. Raczek kann sich ironische Bemerkungen nicht verkneifen – den Neuen bringt das nicht aus der Ruhe...

Es wurde viel spekuliert, wer nach zehn Jahren das Erbe von Maria Simon alias „Polizeiruf“-Kommissarin Olga Lenski antreten wird. Mit dem Willen der Film- und Fernsehbranche, mehr Vielfalt abzubilden, ohne ständig Gendersternchen und Frauenquoten zu bemühen, führt der RBB nun einen queeren Kommissar in Frankfurt/Oder ein – gelebte Realität in Deutschland erreicht offenbar auch immer häufiger ermittelnde Polizeiteams.

Als queer bezeichnen sich Menschen, die nicht heterosexuell sind oder sich nicht mit dem traditionellen Rollenbild von Mann und Frau oder anderen gesellschaftlichen Normen rund um Geschlecht und Sexualität identifizieren.

Die Besetzung von André Kaczmarczyk als Ermittler ist ein absoluter Glücksfall für das Fernsehen. Der 1986 in Suhl geborene Schauspieler spielte als Jugendlicher schon in Eisenach mit Leidenschaft Theater, stand dort u. a. als Martin Luther beim Mittelalter-Spektakel auf der Bühne und wechselte später vom Theaterjugendklub der Stadt ans Landestheater. 2005 zog es ihn von dort ans Potsdamer Hans Otto-Theater und an die Berliner Schauspielschule „Ernst Busch“. Noch immer auf den Theaterbühnen zu Hause, sieht er den Ausflug in den Film als „Abenteuer“ und verkörpert dabei einen neuen Polizisten-Typ – den Gegenpart zum „typischen Bullen“, wie Kaczmarczyk findet. Zur Figur Vincent sagt er: „Es ist noch nicht klar, was das ist und wer das ist, das bleibt ja offen und das finde ich auch richtig. Da sieht jeder, was er sieht und sehen möchte.“

Auch Schauspieler Lucas Gregorowicz kann dem viel abgewinnen: „Mit Vincent kommen neue Regeln und eine andere Dynamik ins Spiel. Nicht ein weiterer „Haudegen TV- Kommissar“, sondern einer, dessen Welt- und Menschenbild Adam zu einer neuen Perspektive zwingt.“ Das sei ein Schritt in die richtige Richtung. Über die Arbeit mit seinem Schauspielerkollegen sagt Gregorowicz gut gelaunt: „In André bin ich verliebt.“ Ihr erster Fall brachte den beiden TV-Kommissaren am Sonntagabend starke 25 Prozent Einschaltquote.

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