Niederschmalkalden „Ich sehe den Zug heute noch“

Ostern 1945 ist für drei der ältesten Niederschmalkalder mit einem Klang verbunden, den sie in 80 Jahren nicht vergessen haben: Das Schlurfen von Holzschuhen. Es waren die Schuhe von KZ-Häftlingen, die von Nazi-Aufsehern durchs Dorf getrieben wurden – ein Todesmarsch.

Unterhalb des Kriegerdenkmals auf dem Niederschmalkalder Friedhof liegt die Gedenkstätte für drei unbekannte KZ-Häftlinge. Sie soll durch eine eigens von Steinbildhauer Sebastian Paul geschaffene Skulptur aufgewertet werden. Foto: Sascha Willms

„Ich sehe den Zug heute noch“, sagt Anneliese Will aus Niederschmalkalden. Die 90-Jährige hat ihr Strickzeug beiseite gelegt und ins Wohnzimmer gebeten, wo der Osterschmuck schon Einzug gehalten hat. Auf dem Tisch liegt eine gestickte Decke mit Tulpen und Osterglocken, hell und freundlich. Ganz anders sind ihre Erinnerungen an Ostern 1945. Klar, aber düster. „So etwas vergisst man nicht“, sagt sie.

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Anneliese Will ist in Niederschmalkalden geboren, ihr Vater war Schmiedemeister. Die 90-Jährige hat die Daten ihrer Kindheit parat. 1938, die erste Erinnerung, als ihre Schwester Lilli von einem Auto überfahren wird. 1939, der Vater wird eingezogen und muss in den Krieg. 1945, der Todesmarsch der Häftlinge durch den Ort.

Als Kinder hätten sie oft gegenüber der Schmiede gespielt und gemurmelt, an der „Kinderecke“, wie man noch heute sagt. Auch an diesem Osterfeiertag vor 80 Jahren. Sie kamen von der Feldscheune her, ein Zug ausgemergelter Menschen, gekleidet in Lumpen, manche hatten vermutlich Häftlingskleidung an, erzählt Anneliese Will. Einen hätten die anderen mitgezogen, „der konnte nicht mehr alleine laufen“. Aufseher in grünen Uniformen hätten den Zug bewacht, bewaffnet mit Gewehren.

Die Kinder hatten Angst. Wegen der Gewehre, durch den Anblick des Zuges. „Wir standen im Hof, keiner hat etwas gesagt.“ Die zehnjährige Anneliese fragte sich, wo kommen die her, wo wollen die hin? Später habe es geheißen, die Häftlinge hätten oben in der Feldscheune übernachtet, und dass es zwei Tote gegeben habe. Die seien wohl in der Scheune geblieben.

Das Geräusch geht nicht aus dem Ohr

Ein paar Häuser weiter Richtung Mittelschmalkalden, direkt am Bahnübergang, stand der 14-jährige Egon Tanner mit seinem Vater am Fenster, als der Zug vorbeikam. „Es war ein Trauerspiel“, sagt der heute 94-Jährige. Auch er erinnert sich „an dieses Holzschuhschlurfen“. Er hat es noch immer im Ohr. Die Häftlinge seien sehr geschwächt gewesen, erzählt er. Sie zogen am Haus seiner Eltern, die eine Flaschenbierhandlung hatten, vorbei und wieder zur Landstraße hoch Richtung Mittelschmalkalden.

Egon Tanner erlebte den Todesmarsch als 14-Jähriger. Sein Vater wollte sich für einen Häftling einsetzen und wurde dafür von einem SS-Mann bedroht. Foto: Ulricke Bischoff

Ein SS-Soldat warf einen Zigarettenstummel weg, ein Häftling hob den Stummel auf. Ein SS-Mann sah das und schlug mit dem Gewehrkolben auf den Häftling ein. Lass ihn, habe sein Vater gesagt, der ist doch so schon schwach. Der SS-Mann habe Tanners Vater gedroht: Sei still, sonst gehst du auch gleich mit. So etwas „kannst du nicht vergessen“, sagt Egon Tanner.

Am selben Tag sei eine Lokomotive zwischen Mittel- und Niederschmalkalden beschossen worden. Die Tiefflieger hätten auch den Zug der Häftlinge beschossen.

Konnten sich Häftlinge befreien?

Was sich in der Nacht zuvor in der Feldscheune abgespielt hatte, wusste man nicht. Es seien Häftlinge vom Nachtlager getürmt, hätten manche später erzählt. Aber das sei nie ganz klar gewesen.

Von der Ankunft des Todesmarsches in Niederschmalkalden am Tag zuvor hatte Kurt Marr immer wieder erzählt. Das berichtet seine Tochter Silke Jäger, die zu den Niederschmalkalder Ortschronisten zählt. Ihr Vater, Jahrgang 1933, habe gesehen, wie die Häftlinge ihre Hände zum Mund bewegten um zu zeigen, dass sie hungerten.

Familie Marr besaß eine Fleischerei, den Häftlingen helfen durften sie nicht. Ihrem Großvater Albin Marr hätten die Aufsehener dann befohlen, Knochen in einen Topf zu werfen und eine Brühe zu kochen. Nach einer Stunde seien sie mit Eimern wieder gekommen und hätten die Brühe geholt. Auch ihr Vater habe noch Jahrzehnte später vom Klang der Holzschuhe erzählt.

Kurt Pappenheim, der 2018 verstorbene Sohn des Schmalkalder Sozialdemokraten Ludwig Pappenheim, der 1934 von den Nazis ermordet worden war, hat sich viel mit den Todesmärschen in der Region beschäftigt. Zeit seines Lebens erinnerte Pappenheim an die Schrecken der Hitlerdiktatur, er hatte sich auch dafür eingesetzt, dass auf den Niederschmalkalder Friedhof 1996 eine Gedenkstätte zur Erinnerung an den Todesmarsch und die drei unbekannten KZ-Häftlinge eröffnet wurde.

Rückweg vom Kali-Gebiet

Pappenheim recherchierte viel in Sachen Todesmärsche. Wie die Heimatzeitung im Jahr 2017 veröffentlichte, gab es nach seinen Aussagen in Südthüringen mehrere Todesmärsche von Außenlagern des KZ Buchenwald, unter anderem vom Außenlager Springen (heute Wartburgkreis) mit 450 Häftlingen, vom Außenlager Leimbach/Kaiseroda bei Bad Salzungen mit 300 bis 400 Häftlingen sowie vom Außenlager Ohrdruf mit 8000 Häftlingen. Der Todesmarsch von Kaiseroda führte nach Pappenheims Erkenntnissen wahrscheinlich über Wernshausen, Nieder- und Mittelschmalkalden, Schmalkalden, in Richtung Oberhof und Tambach-Dietharz. Die Häftlinge seien in den Gruben im Kali-revier dafür eingesetzt worden, die Nazi-Schätze zu verstecken, sagte Pappenheim.

Als die amerikanischen Truppen Südthüringen immer näher kamen, begannen die Nazis, die Außenlager zu räumen und trieben tausende Häftlinge auf Todesmärsche – offenbar im Versuch, ihre eigenen Verbrechen zu vertuschen.

Häftling bittet um Kleidung

Womöglich führte durch Niederschmalkalden ein zweiter Todesmarsch, das lässt die Schilderung eines weiteren Zeitzeugen vermuten. Horst Beyer aus Niederschmalkalden, der Anfang März seinen 90. Geburtstag feierte, wohnte als Kind auf der Zwick, in einer Betriebswohnung der Kammgarnspinnerei. Von dort habe er einen Häftlingszug beobachtet, von Wernshausen über die Zwick-Kreuzung kommend. Ein Teil der Häftlinge sei Richtung Todenwarth abgebogen, ein Teil weiter in Richtung Schmalkalden gegangen, erzählt er.

Horst Beyer war zehn Jahre alt, als er an der Zwick einen Todesmarsch verfolgte. Kurz darauf klopfte es bei der Familie an der Tür. Foto: Ulricke Bischoff

Sein Vater war im Krieg, die Mutter lebte alleine mit den Kindern. Kaum hatten sie den Zug gesehen, klopfte es an der Tür. Ein Häftling stand davor, legte den Finger an die Lippen und bat um Anziehsachen. „Wir saßen da wie die Pfeifen“, erinnert sich Horst Beyer. Seine Mutter habe Sachen seines Vaters zusammengepackt und ein Brot für den unbekannten Mann gemacht.

Der Häftling habe seinen Namen nicht genannt, er wollte wohl sich selbst und auch uns schützen, vermutet Horst Beyer. Der Mann sei wieder gegangen, er wollte sich irgendwo auf dem Feld umziehen. „Wir haben nie wieder etwas von ihm gehört.“

„Wehe, ihr sagt was“

Aber Angst hatten sie noch lange, Furcht, davor, dass jemand kommt und sie bestraft, weil sie einem Häftling geholfen hatten. „Wehe, ihr sagt etwas“, habe die Mutter immer wieder gemahnt.

Den Häftlingszug hatte Horst Beyer vom Hof aus beobachtet. Keiner habe damals etwas gesagt, „es war eine Stille“. Nur die Holzschuhe klapperten.

Steinskulptur zum Gedenken an den Todesmarsch

Die klappernden Holzschuhe  finden sich in einem Kunstwerk wieder, das Sebastian Paul aus Berlin im vergangenen Sommer beim ersten Bildhauer-Symposium in Niederschmalkalden aus Stein geschaffen hat. Die Skulptur ist für die Gedenkstätte auf dem Friedhof in Niederschmalkalden gedacht. Dort soll sie am 8. Mai  zum Ende des zweiten Weltkriegs vor 80 Jahren offiziell eingeweiht werden. Der bisherige Gedenkstein, aufgestellt im Jahr 1996,  erinnert „an  drei unbekannte  KZ-Häftlinge, umgekommen auf dem Todesmarsch durch Niederschmalkalden am 2. April 1945“. Dieser Stein wurde abgebaut und soll in die neue Gedenkstätte mit Skulptur integriert werden, kündigt Ortsteilbürgermeister Fabian Amborn an.