Netzausbau Jarass zerlegt die Argumente der Netzbetreiber – wieder einmal

Bei den Gegner der Stromtrassen ändert auch der Beginn des Planfeststellungsverfahrens nichts: Sie bleiben bei ihrem Nein. Foto: /Michael Reichel/Archiv

Die Gleichstromtrassen Südlink und Südost-Link seien wichtig für die Versorgungssicherheit, sagen die, die sie bauen wollen. Und die EU verlange diese Stromtrassen. Falsch, sagt Gutachter Lorenz Jarass.

 
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Suhl - Eigentlich sah es zuletzt so aus, als sei der Bau der beiden Stromautobahnen Südlink und Südost-Link durch Thüringen nicht mehr zu verhindern. Für den Südlink läuft in der Region bereits das Planfeststellungsverfahren. Die Bundesnetzagentur hat den Planungskorridor der Übertragungsnetzbetreiber Tennet und TransnetBW bestätigt. Nun arbeiten diese an der Detailplanung auf dem rund 1000 Meter breiten Streifen, den der Planungskorridor derzeit noch darstellt.

Doch die Gegner der Stromtrassen lassen sich davon nicht beirren. Und so schalten sich am Montagabend mehr als 260 Zuschauer in die Videokonferenz des Aktionsbündnisses Trassengegner mit Lorenz Jarass. Der Professor für Wirtschaftswissenschaften begleitet den Zusammenschluss der Bürgerinitiativen gegen die verschiedenen Stromtrassen-Neubauprojekte bereits seit vielen Jahren, hat mittlerweile drei Gutachten in ihrem Auftrag angefertigt, die sich mit der Frage auseinandersetzen, ob all das, was die vier großen Übertragungsnetzbetreiber planen, auch wirklich nötig ist.

Sein vernichtendes Urteil am Montagabend: Nein, ist es nicht. Und die Neubauprojekte, die Milliarden verschlingen sollen, verstoßen aus Jarass Sicht gegen geltendes Europarecht. Damit hat Jarass seine neuste Argumentationslinie eröffnet. Nachdem er mit seinen Argumenten zu Versorgungssicherheit und dezentraler Stromversorgung ohne Netzausbau bisher bei Konzernen und der Politik offensichtlich nicht verfangen konnte, hat er sich nun eine neue Angriffsfläche gesucht. Europa.

Und das nicht von ungefähr. Denn immer wieder argumentieren die Netzbetreiber, dass sie mit ihren Neubauprojekten nur das Umsetzen würden, was Europa von ihnen verlangt. Gemeinsam mit dem Würzburger Rechtsanwalt für Verwaltungsrecht, Wolfgang Baumann, der die Bürgerinitiativen ebenfalls seit Jahren begleitet, habe er sich daher die Frage gestellt, ob das denn wirklich so sei. „Denn mir war klar, dass wir einpacken können, wenn Europa diesen Netzausbau in Deutschland wirklich vorschreibt, sagt Jarass. Doch dem sei eben nicht so. Bei ihren Recherchen seien sie vielmehr daraus gestoßen, dass der in Deutschland betriebene Netzausbau in vielen Punkten gegen europäische Vorgaben verstoße.

Da sei zunächst die Kosten-Nutzen-Analyse für die geplanten Gleichstromtrassen von Nord- nach Süddeutschland. Das europäische Recht schreibe vor, dass Neubauvorhaben nur dann realisiert werden dürften, wenn ihr Nutzen die zu erwartenden Kosten übersteigt. Doch das sei bei allen drei Projekten nicht der Fall, so der Gutachter. „Beim Südost-Link übersteigt der Nutzen in keinem der von den Netzbetreibern angegebenen Szenarien die Kosten“, sagt Jarass. Die Planungen für die unterirdische Stromleitung, die von Sachsen-Anhalt entlang der Autobahn 9 durch Thüringen nach Bayern verlaufen soll, müssten also umgehend eingestellt werden.

Nicht viel besser fällt sein Urteil für den Südlink aus, der von Schleswig-Holstein durch Südwest-Thüringen nach Bayern verlaufen soll. Auch dieser erfülle nur in einem einzigen von den Netzbetreibern aufgestellten Szenario die Anforderungen an eine Kosten-Nutzen-Analyse. Für die in Westdeutschland geplante Trasse Ultranet fehle diese Analyse bislang ganz, kritisierte der Wissenschaftler.

Die Netzbetreiber hätten dieses Kostenproblem inzwischen erkannt. Es sei aber auch einer der Geburtsfehler des Netzausbaus in Deutschland: Der Netzentwicklungsplan sehe eine Betrachtung der Kosten nicht vor. Jetzt, wo dieses Problem offensichtlich werde, würden die Netzbetreiber auf die Redispatch-Kosten verweisen, die sich durch die neuen Leitungen angeblich einsparen ließen. Also die Kosten, die dann entstehen, wenn Kraftwerke abgeregelt werden müssen, weil zu viel Strom zur Verfügung steht. Diese Kosten ließen sich aber durch eine einfache Limitierung der Strommenge erzielen, die an der Börse gehandelt werden dürfe. Denn genau deshalb entstünden die Redispatch-Kosten, weil an Tagen, an denen viel Strom erwartet wird, quasi wertloser Strom durch Europa transportiert werden soll. Die Kosten für diese Netze dann aber allen Bürgern aufzuerlegen, sei nicht gerechtfertigt, so Jarass.

Zumal selbst der Netzentwicklungsplan für die Zukunft sinkende Stromexporte aus Deutschland ins Ausland vorhersieht. Aus einem einfachen Grund: Wenn Kern- und Kohlekraftwerke in Deutschland vom Netz gehen, bleibt weniger Strom für den Handel an der Börse übrig. Daher würden die Annahmen der Netzbetreiber der zu transportierenden Strommengen für das Jahr 2030 vielleicht noch zutreffen, für 2035 aber wohl schon nicht mehr, prophezeit Jarass. Wozu dann also Leitungen bauen, die wenige Jahre nach ihrer Inbetriebnahme nicht mehr gebraucht werden?

Er habe in den europäischen Vorgaben nur einen einzigen Punkt gefunden, der den Netzbetreibern in die Hände spiele. Das seien die sogenannten Projekte von gemeinsamem Interesse. Es sind Stromtrassen, die angeblich für ganz Europa wichtig seien. Doch Jarass hat so sein Problem mit diesen Vorhaben: Sie werden nicht von der Politik definiert, sondern von der Arbeitsgemeinschaft der europäischen Übertragungsnetzbetreiber. Aus deren Empfehlungen leite die Politik dann ihre Gesetze ab. In Deutschland das Bundesbedarfsplangesetz. Kritiker des Netzausbau monieren seit Jahren, dass damit einem überdimensionierten Netzausbau Tür und Tor geöffnet werden. Schließlich garantiert Deutschland den Netzbetreibern eine Verzinsung von rund sechs Prozent aufs Eigenkapital bei Neubauten. Eine solche Rendite ist in diesen Zeiten anderswo schwer zu finden.

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