Nach der Flutkatastrophe in Spanien Jetzt kommt die Wut

Martin Dahms

Ist Spanien ein gescheiterter Staat? Wahrscheinlich nicht. Aber nach der Flutkatastrophe im Hinterland von Valencia sind sich viele Spanier nicht mehr so sicher.

 
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In Spanien packen die Menschen selbst an. Foto: IMAGO/Revierfoto/IMAGO/Revierfoto

Die Geschichte könnte erfunden sein, ist sie aber nicht. Zwei Tage nach dem verheerenden Unwetter im Osten Spaniens erzählte der französische Innenminister Bruno Retailleau dem Fernsehsender BMF2, dass er seinem spanischen Kollegen Fernando Grande-Marlaska Hilfe angeboten habe. „Ich habe ihm gesagt, dass wir etwa 250 Feuerwehrleute haben, bereit zum Aufbruch, mit allem, was dazu gehört.“ Marlaska habe aber abgelehnt, im Moment bestehe kein Bedarf, „wir sind noch in einer ersten Phase, in der wir uns selbst organisieren“, habe der Minister gesagt. Spanien habe seine eigenen Mittel, die Armee sei mobilisiert.

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Ein Trupp französischer Feuerwehrleute von der Hilfsorganisation Groupe de Secours Catastrophe Français machte sich trotzdem auf den Weg nach Alfafar, einem der von der Flut verheerten Vororte von Valencia. Drei Tage nach der Katastrophe, kamen sie an. Sie trafen schlammschaufelnde Bewohner. Mit einem kam der Chef des Hilfstrupps ins Gespräch: „Wollen Sie mir sagen, dass wir die ersten Helfer sind, die ankommen?“ „Ja.“ „Sie haben noch keine Hilfe bekommen?“ „Die spanische Polizei war noch nicht da.“ „Niemand?“ „In diesem Ort nicht.“ Der französische Feuerwehrmann brauchte etwas, um Augen und Ohren zu trauen.

Die Menschen greifen zur Selbsthilfe

Die Geschichte ist gut dokumentiert. Eine Sache nur hatte das spanische Innenministerium anzumerken, als die Zeitung „El Mundo“ danach fragte: „Das Angebot Frankreichs zur Zusammenarbeit, das über diese Feuerwehrleute hinausging, wurde der Generalitat Valenciana übermittelt, die in dieser Einsatzsituation 2 des Notfallplans die Rettungs-, Bergungs- und Wiederaufbauarbeiten in den von der Flut betroffenen Gebieten leitet.“ Der spanische Innenminister habe nichts „aufgeschoben“.

Hier haben wir das ganze Elend Spaniens und auch ein wenig von seinem Glanz. Eine rettungslos überforderte Regionalregierung (die Generalitat), eine nationale Regierung, die sich hinter Kompetenzfragen verschanzt, ein abwesender Staat, der nach drei Tagen noch nicht ins Katastrophengebiet vorgestoßen ist, und Menschen, die zur Selbsthilfe greifen.

Die Flutkatastrophe ist auch eine Staatskatastrophe

Die Spanier sind gerne Spanier, weil sie finden, dass sie im lebenswertesten Land der Welt zuhause sind. Sie hätten es allerdings gerne, dass ihr Land auch noch gut funktionierte. Meistens tut es das auch. Aber manchmal gibt es Stöße gegen das nationale Selbstbewusstsein. Der schwerste war die Wirtschaftskrise nach dem Platzen der Immobilienblase 2008, von der sich Spanien immer noch nicht erholt hat. Vor der Krise lag das spanische Prokopfeinkommen 6 Prozent über dem EU-Durchschnitt, heute 12 Prozent darunter. Die Arbeitslosigkeit ist noch immer hoch und die Löhne sind niedrig. Langsam klettert das Land gerade aus seinem Loch hervor, die Konjunktur läuft gut, auch wegen der Touristenmassen.

In diese vorsichtige wirtschaftliche Aufbruchstimmung bricht die Überschwemmungskatastrophe herein, die zugleich eine Staatskatastrophe ist. Ein paar Jahre nach Beginn der Großen Rezession, im Mai 2011, füllte sich Spanien mit Protestlagern für eine „Wahre Demokratie jetzt!“ Es war ein Klageruf gegen die „Politische Kaste“ – ein Kampfbegriff, den später der Podemos-Gründer Pablo Iglesias popularisierte. Das Gefühl, von den Regierenden verlassen zu sein, ist bei vielen noch nicht gewichen. Und die Fluten von Valencia geben ihnen recht: Ja, die Regierenden haben das Volk verlassen. Sie sind mit dem Machterhalt beschäftigt, nicht mit den ihnen zugewiesenen Aufgaben. Die Menschen in Spanien sind wütend und das haben sie am Samstag in Valencia gezeigt. Laut Behördenangaben haben rund 130.000 Menschen gegen die schleppend angelaufene Hilfe und die zu spät gekommenen Warnungen protestiert.

Das erste Versagen reicht lange zurück, mindestens bis ins Jahr 2007, als dem spanischen Umweltministerium verschiedene Pläne vorlagen, um die Ufer der Rambla del Poyo gegen Überschwemmungen zu schützen. Sie wurden nie ausgeführt. Die Rambla del Poyo ist das 50 Kilometer lange Bachbett, das meistens trockenliegt und durch das nach den heftigen Regenfällen am Nachmittag des 29. Oktober, alles zerstörend, bis zu knapp 2300 Kubikmeter Wasser in der Sekunde herunterstürzten (das ist fast so viel Wasser, wie der Rhein an der deutsch-holländischen Grenze führt). Die Arbeiten hätten 150 Millionen Euro gekostet. Die Soforthilfe der spanischen Regierung für das Katastrophengebiet beträgt mehr als 10 Milliarden Euro. Das spanische Umweltministerium wurde von der sozialistischen Regierung unter Pedro Sánchez vor sechs Jahren in „Ministerium für Ökologische Transition“ umbenannt. Namensänderungen gehen schnell, Bewusstseinsänderungen nicht.

Das zweite Versagen war die verspätete Warnung der Menschen. Die für den Katastrophenschutz zuständige Regionalministerin überraschte die Spanier neun Tage nach der Katastrophe mit dem Eingeständnis, sie habe von der Möglichkeit, auf alle in der Gegend befindlichen Mobiltelefone eine durch lautes Schrillen angekündigte Warnbotschaft zu schicken, gar nicht gewusst. Offenbar wusste es auch sonst niemand in dem am Nachmittag einberufenen Krisenstab. Dort muss es nach durchgesickerten Berichten zugegangen sein wie in einem Hühnerstall, wenn der Fuchs kommt. Als die Warnung doch endlich rausging, waren die Fluten längst über ihren Opfern zusammengeschlagen.

Das dritte Versagen war und ist die fehlende Organisation der Hilfe. Drei Tage nach dem Desaster war es den Spaniern zu viel: Sie begannen die Hilfe in die eigene Hand zu nehmen. Es sind vor allem junge Leute, die überall in Spanien Spenden einsammeln, Kleidung, Nahrung, Medikamente, sie in die Gegend von Valencia bringen und sie dort verteilen. Das ist wunderbar und rührend und doch keine gute Lösung. In Valencia fehlt es weder an Kleidung noch Nahrung noch Medikamenten; es fehlt an Organisation. Aber weil es an der fehlt, ist die Hilfe der Freiwilligen dann doch das Beste, was den Flutopfern derzeit geschieht.

Die Stimmung, nicht nur in den Katastrophengebieten, sondern in ganz Spanien, ist mit Wut gesättigt. Die haben fünf Tage nach der Flut auch König Felipe und Königin Letizia abbekommen. In Paiporta bei Valencia wurden sie mit Schlamm und Hassgesängen empfangen, die sie mit tröstenden Gesten und Worten beantworteten. Die sie begleitenden Politiker verschwanden oder blieben unsichtbar. „Spanien steht heute vor dem Schreckgespenst eines gescheiterten Staates“, schreibt Pablo Blázquez, der Gründer der kleinen feinen Zeitschrift Ethic. Spaniens Regierende haben nichts gelernt. Für sie ist der Schlamm von Valencia nur das Material für kommenden politische Schlachten.