Thüringens Minister in Videokonferenz „Sichtweisen in Regierung unterscheiden sich extrem“

Antje Kanzler
In die Videokonferenz hatten sich zeitweilig um die 50 Teilnehmer eingewählt. Bürgermeister Fabian Giesder, Meiningen-GmbH-Geschäftsführer Stefan Voß, (links), Werbegemeinschaftsvorsitzender Thomas Fickel (Zweiter von links) und der städtische Digitalisierungsbeauftragte, Christian Nesslinger (rechts), verfolgten die Diskussion aus dem Rathaus mit, Thüringens Wirtschaftsminister Wolfgang Tiefensee war zeitweilig per Telefon zugeschaltet. Foto: Antje Kanzler

„Schwerste Verwerfungen in der Gesellschaft“ nimmt Thüringens Wirtschaftsminister Wolfgang Tiefensee wahr. Er sieht einige Branchen besonders schwer betroffen und bietet Hilfe an. Kritik übt er am Beharren auf dem Inzidenzwert.

 
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Meiningen - „Ich plädiere schon seit Herbst dafür, nicht nur auf die Inzidenz zu schauen“, sagte Wirtschaftsminister Wolfgang Tiefensee, der am Montag in einer Videokonferenz den Austausch mit Geschäftsleuten und Politikern der Meininger Region suchte. „Die Sichtweisen in der Landesregierung unterscheiden sich extrem.“

Er sei ein Verfechter davon, den Bürgern wieder eine Perspektive und ein Stück ihrer Grundrechte zurück zu geben. „Dass endlich ein Strategiewechsel passieren muss, ist aber leider nicht die vorherrschende Meinung“, bedauerte er. Auch wenn die meisten in der Runde gern etwas anderes von ihm gehört hätten, rechneten sie ihm die klaren Worte hoch an. „Schade, dass es bei den gesetzgebenden Entscheidungsträgern noch nicht angekommen ist“, meinte Bürgermeister Fabian Giesder. „Ich muss Ihnen ganz sehr danken, dass Sie hier Klartext gesprochen haben. Sehen Sie, dass ein Umdenken einsetzt?“, meldete sich Falk Grimm, Fraktionsvorsitzender von Pro Meiningen. „Beim Ministerpräsidenten sehe ich das nicht und da ist er nicht allein“, antwortete Tiefensee. „Es sind zwei Denkschulen unterwegs in Deutschland. Die eine vertrete ich. Ich finde, wir müssen lernen, wie man mit hohen Inzidenzen umgeht, sonst können wir in den nächsten acht Wochen noch immer nicht aufmachen“, fürchtete er. „Wir müssen dafür sorgen, dass andere Kriterien eine Rolle spielen. Beispielsweise sind nur 23 Prozent der Intensivbetten in Thüringen mit Covid-Patienten belegt.“ Er sei für die Öffnung des Einzelhandels. Dort würden nur 20 Prozent des Umsatzes gemacht, 80 Prozent in den Märkten. Ebenso könnten Campingplätze, Ferienhäuser und -wohnungen problemlos an den Start gehen, denn hier seien Familien unter sich – wie zu Hause. „Wir müssen die wahren Infektionstreiber finden. Wo sind sie denn? In den Gaststätten und Geschäften nicht, die haben zu. Die Ansteckungen geschehen meist im häuslichen Umfeld und generell in geschlossenen Räumen“, sagte der Minister. Gebraucht würden zudem klare Quarantäneregeln, um Infektionsketten zu unterbinden. Und natürlich müsse viel geimpft werden. Hier habe Deutschland leider versagt.

Sein Ministerium versuche nun nach Kräften, mit Überbrückungshilfen, Härtefallfonds und Ähnlichem bei denen die größte Not abzufedern, die gerade die Hauptlast tragen müssen. „Wir wollen mit allen Kräften die Unternehmen unterstützen, damit sie nicht den Bach runtergehen“, betonte er. Ausdrücklich ermunterte Tiefensee dazu, Überbrückungshilfen zu beantragen. Wenn es Probleme gebe, könne man ihn direkt an schreiben.

Einen ähnlichen Appell richtete später der Vorsitzende der Werbegemeinschaft und CDU-Stadtratsfraktionschef Thomas Fickel an die Geschäftsleute: „Es ist ganz wichtig, die Überbrückungshilfe zu nutzen. Auch die Büros unserer Landtagsabgeordneten stehen beratend zur Verfügung. Außerdem können Sie sich bei uns in der Werbegemeinschaft melden. Geben Sie nicht auf, bevor Sie nicht mit uns gesprochen haben“, bat Fickel, der weiß, dass sich bereits einige mit dem Gedanken beschäftigen, gar nicht wieder zu öffnen.

Damit der Minister gute Argumente bei seiner schwierigen Überzeugungsarbeit hat, teilten die Geschäftsleute ihre Erfahrungen. „Da wurden Versprechungen abgegeben, dass es keine Schließung wieder gibt und daraufhin Waren in Größenordnungen gekauft. Und jetzt sitzen die Händler auf ihrer Sommer- und Frühjahrsware. Ich sehe schwarz für Meiningen, wenn das nicht verkauft werden kann“, meinte Citymanager Heiko Olk. Hier wusste Wolfgang Tiefensee Rat: „Ich wundere mich. Über die Überbrückungshilfen 2 und 3 kann man doch die Ware, auf der man sitzen bleibt und die abzuschreiben ist, ersetzt bekommen.“

Alexander Knopf berichtete, immer noch kein Überbrückungsgeld und kein Kurzarbeitergeld bekommen zu haben. „Da geht es vielen Kollegen so.“ Seine dringende Bitte an die Politik: „Bitte entscheidet euch für eine App, nehmt Geld in die Hand und macht Werbung dafür. Auch fürs Impfen und Testen, um Akzeptanz in der Bevölkerung zu finden. Wir sind die Leidtragenden der Pandemie.“ Es spreche durchaus einiges dafür, mehrere unterschiedliche Apps zu nutzen, mit einer Schnittstelle dazwischen, antwortete der Minister. SPD-Landtagsabgeordnete Janine Merz ist überzeugt, dass die Akzeptanz von Impfungen und Testungen erhöht werden können, wenn damit mehr Freiheiten möglich werden, wie etwa Einkaufen.

„Die Inzidenz muss weg“, war sich Stadtrat Michael Krämer mit den meisten einig. Allerdings lehnte er auch die Testung ab. „Das macht das ganze Volk nur noch verrückter. Die Tests sind untauglich. Wir landen in einem Überwachungsmechanismus. Ich möchte so nicht wieder Gastronomie machen. Dann mache ich nicht wieder auf.“ Bürgermeister Fabian Giesder widersprach entschieden. Verlässliches Öffnen brauche die Akzeptanz der drei Säulen Impfen, Testen und Kontaktnachverfolgung.

Landtagsabgeordneter Patrick Beier (Linke) fragte, an welchen Zahlen man sich orientieren solle, wenn nicht am Inzidenzwert. Die entscheidende Quote, antwortete der Minister, sei heute, wie viele Covid-Patienten auf den Intensivstationen liegen.

Gabriele Weschenfelder trug ihm ihre Sorge an, dass enorme psychische Probleme in den Familien und bei den Geschäftsleuten entstanden sind. Sie verstehe zudem nicht, warum keine zwei Leute in ein Geschäft gehen dürfen, aber sich „die Menschen im Kaufland stapeln“. Diese Ungereimtheiten ärgern auch Tiefensee. „Ich verstehe, warum sie verzweifeln. Für mich ist das auch nicht schlüssig. Aber diejenigen, die sagen, wir wollen keine Mobilität erzeugen, setzen sich im Moment leider durch.“ Die Plausibilität der Entscheidungen kritisierte ebenso-Fraktionschef Ulrich Töpfer und sprach sich klar für die Öffnung der Innenstadt aus. Fabian Giesder kündigte an, dass künftig die Supermärkte die Kontrollschwerpunkte sein werden. Die seien beim Umsetzen ihrer Hygienekonzepte nicht gut aufgestellt.

Gastronom Falko Herting sah in Bezug auf die App „die Trägheit unseres Gesundheitsamtes kritisch. Die Erkenntnisse kommen vielleicht nicht schnell genug an oder können nicht zügig nachverfolgt werden“. Auch bat er darum, alles „oben anzubringen, was heute geredet“ wurde. „Meine Mitarbeiter sind in Kurzarbeit. Uns steht das Wasser bis zum Hals. Ich hoffe, dass wir überleben. Wir sind ja auch Sozialarbeiter, nicht nur Gastronomen.“ Das Kurzarbeitergeld, so Tiefensee, sei für den Osten viel zu niedrig. „Wir müssen dringend was für die Klientel tun, die nichts mehr oder nur noch wenig auf dem Konto haben.“

Als der Bürgermeister am Ende noch mal alle aufforderte, Einfluss über Landtag und Verbände und auf allen Kanälen auszuüben, hatte sich Wolfgang Tiefensee schon verabschiedet. Landtagsabgeordneter Michael Heym (CDU) ließ sich noch mal bestätigen, dass „die wirklich gute Initiative“ über den Landkreis hinaus geht. Mit Südthüringer Themen falle es leichter, „unser Wort anzubringen und bestimmte Häuser zu missionieren“. Ein General-Lockdown könne jedenfalls nicht das Mittel der Zukunft sein.

Einig waren sich alle, dass es im April eine Fortsetzung dieser Gesprächsrunde geben wird und bis dahin jeder versucht, seinen Einfluss geltend zu machen, damit das Land den Mut für einen Strategiewechsel aufbringt. any

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