Meinung Wehrlos ohne Waffen

Eine historische Postkarte. Foto: imago/Arkivi/imago stock&people

In sechs Thüringer Städten finden am Samstag Ostermärsche für Frieden und gegen Aufrüstung statt. Die Friedensbewegung muss erklären, wie sie einem unberechenbaren Aggressor wie Russland entgegentreten will – wenn nicht mit Waffen. Erst die Schutz- und Wehrlosigkeit der Ukraine hat Putin zum Angriffskrieg ermuntert. Statt der Utopie einer gemeinsamen Sicherheit in Europa wird eine reale Sicherheit gegen Putin-Russland treten müssen

 
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Am Sonntag feiern Christen die Auferstehung Jesu. Johann Wolfgang Goethe hat dazu vor 200 Jahren in Weimar das schönste Gedicht geschrieben. Den „Osterspaziergang“ lernt seither jedes deutsche Kind in der Schule. Vor dem Auferstehungssonntag liegt der Karsamstag, der Tag der Klage, des Kummers und der Trauer. Da geht man in Deutschland nicht fröhlich spazieren, sondern rüstet sich zum Marschieren. Thüringer Ostermärsche finden in Ohrdruf, Erfurt, Weimar, Jena und Gera statt sowie eine „Ostermarschaktion“ in Suhl. In ganz Deutschland demonstriert damit die Friedensbewegung auch gegen mehr Geld für die Bundeswehr. Nie standen die Märsche vor größeren Herausforderungen als in diesem Kriegsjahr.

Der bekennende Christ und ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) sieht die Glaubwürdigkeit der Friedensbewegung in Gefahr. Sie müsse sich der bitteren Tatsache stellen, dass es die Schwäche und Uneinigkeit des Westens einerseits sowie die Schutz- und Wehrlosigkeit der Ukraine andererseits gewesen seien, die Putin als Aggressionsermunterung „missverstehen konnte, ja musste“. Sicherheit in Europa, die auf den Ostermärschen eingefordert werde, könne nur auf Recht gegründet sein und dieses Recht müsse man eben auch durchsetzen können. Statt einer gemeinsamen Sicherheit werde eine Sicherheit gegen Putin-Russland treten müssen – so leid ihm das tue. Thierse sagt das nicht leichtfertig. Er wurde mit seiner Familie am Ende des Zweiten Weltkrieges aus Breslau vertrieben und wuchs als Flüchtling in Eisfeld und Hildburghausen auf.

Selbst aus den sonst stark pazifistischen Kirchen hört man verschiedene Stimmen. „Ihr Land wurde willkürlich und bösartig überfallen, sie haben das Recht, sich zu verteidigen. Wer bin ich, ihnen ins Gesicht zu sagen, sie sollten dazu Pflugscharen benutzen“, sagt die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Annette Kurschus, über die Ukraine. Das scheint das ganze Gegenteil von dem, was der Thüringer Landesbischof und Friedensbeauftragte der EKD, Friedrich Kramer, meint, der strikt gegen Waffenlieferungen und Aufrüstung ist. „Russland ist nicht unser Feind“, sagt er, was nicht falsch ist.

Statt weiter orientalische Märchen über die russische Seele zu verbreiten, „sollten wir lieber die Abendnachrichten schauen, wo die wirkliche russische Seele sich auf der Weltbühne manifestiert“, ärgert sich der in Kiew geborene Kunsthistoriker Konstantin Akinsha. „Putin in Russland immer beliebter: 83 Prozent Zustimmung im Volk“, meldete das auch im Westen anerkannte Meinungsforschungsinstitut Levada Center dann am Montag.

Ein anderer in Thüringen gestrandeter Flüchtling – ebenso berühmt wie Goethe – hat uns diesen Satz in die Schulbücher geschrieben: „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.“ Es stammt von Friedrich Schiller. Sein Wilhelm Tell gibt es als Antwort auf ein vorheriges Gespräch unter Nachbarn über die bedrohlichen Zeiten. „Ja, wohl dem, der sein Feld bestellt in Ruh, und ungekränkt daheim sitzt bei den Seinen“, sagt einer unmittelbar zuvor.

Es sieht nicht so aus, dass wir unser Feld in Ruhe bestellen können. Der Zusammenbruch der Ukraine könne den Weg für „ein offenes Eurasien von Lissabon bis Wladiwostok“ öffnen, schreibt der Vizechef des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, Ex-Präsident und Putin-Freund Dmitri Medwedew. Von Lissabon nach Wladiwostok ist es ein Gewaltmarsch. Vielleicht erinnern sich Kirchen und Friedensbewegung noch einmal an den Thüringer Pfarrer und Bauernführer Thomas Müntzer, der den Begriff vom „Gewaltrecht des Guten“ prägte.

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