Melpers/New York. Vor 57 Jahren hat Stanley Spring in Melpers einen Schritt getan, der ihn und seine Familie bis nach New York brachte: Er ging über die Grenze. Seine Frau, die gebürtige Melperserin Lori Leutbecher, und der gerade zwei Jahre alte Sohn Burkhardt gingen mit ihm. Jetzt besuchten die Eltern mit dem inzwischen 59-jährigen Banker die Stelle auf dieser Erde, die ihr Leben veränderte.

Stanislaw Spring, ein Mann mit polnischen und schwedischen Wurzeln, war 1944 aus dem Krieg zurück gekommen, den er als Soldat in der Tschechei erlebt hatte, und suchte seine Mutter. Übers Rote Kreuz fand er sie – aus Polen kommend, war sie in den Kriegswirren in Aue gelandet, von dort nach Meiningen gekommen und schließlich nach Melpers. Im Elternhaus von Lori Leutbecher fand sie eine Bleibe. Der Sohn schlug sich nach Melpers durch, arbeitete im Wald und wurde „in den Spinnstuben der Mädchen wieder etwas hochgefüttert“, wie er erzählt. Und schließlich: „Eines Tages habe ich mich in Lori verliebt, wir haben geheiratet und 1950 wurde unser Sohn geboren“. Bis dahin vielleicht kein außergewöhnliches Leben nach dem Kriege.

Doch dann reifte in dem mittlerweile im Bergwerk Merkers arbeitenden Mann der Entschluss, den Osten zu verlassen, ja sogar nach Amerika zu gehen. Seine Mutter, die in ihrer Jugend dort gewesen war, hatte ihm wohl die Idee eingepflanzt. Aber warum wollte er weg? „Wir haben gesehen, die bauen jetzt einen Zaun, sie bereiten Minenfelder vor – und um nicht eingesperrt zu sein, habe ich mich entschlossen: jetzt oder nie“, berichtet der mittlerweile knapp 84-Jährige heute. Am 3. Juli 1952 tat er also so, als wolle er zum Heumachen in die Wiesen, passte den Zeitpunkt ab, als die deutsche Grenzpolizei gerade weg war und stieg über den Zaun in Richtung Westen. Der Zaun, die Grenze: Das war damals nur ein Stacheldraht. Von der Pfingstweide Melpers zum Huflar Richtung Fladungen hinüber war es nur eine kleine Strecke – aber eine, die das Leben der Familie verändern sollte.

Frau und Sohn folgten dem Vater: Lori Spring, ihre Cousine Hilde Stepper und der kleine Burkhardt im Kinderwagen taten so, als wollten sie Essen aufs Feld bringen – und überwanden ebenfalls den Zaun. Hilde Stepper kehrte zurück, nachdem sie den Jungen wohlbehalten „drüben“ hatten.

Doch, so erinnern sich die Springs heute, der Empfang auf der anderen Seite Deutschlands war für sie gar nicht so herzlich: Nach drei Kilometern Weg in Fladungen angekommen, wurden sie in einem Keller untergebracht. Erst eine ehemalige Melperserin, die in Fladungen lebte, holte sie dort nach einem Tag heraus und zu sich ins Haus, ist Lori Spring heute noch dankbar.

Das Durchgangslager in Gießen war die nächste Station, dann ein Lager in Stammheim bei Stuttgart. „Ein Zimmer, zwei Doppelbetten“, erinnert man sich. Und: „Wir sind vernommen worden, weil man dachte, wir sind Kommunisten, schließlich kamen wir ja aus der Ostzone“, sagt Stanley Spring. Der Auswanderungsgedanke nach Amerika sorgte wohl zunächst für Skepsis bei den Behörden. Doch nach einem Jahr bekam die Familie die Genehmigung, nach den Vereinigten Staaten auszusiedeln. Mit dem Zug ging es bis Le Havre, dann wurden sie eingeschifft – und sahen zum ersten Mal bei ihrer Ankunft in New York die Statue of Liberty, die Freiheitsstatue.

Ganz ohne Kontakte mussten die Eheleute mit ihrem kleinen Sohn nicht starten: Stanleys Halbbruder hatte eine Gießerei in New York. Er ermöglichte ihm, Arbeit zu finden und Geld zu verdienen. Zunächst fand man eine Wohnung in Astoria/New York, kaufte nach ein paar Jahren schon ein Drei-Familien-Haus. Eine amerikanische Erfolgsgeschichte nahm ihren Anfang: Stanley arbeitete als Bildhauer und Modellbauer für andere Künstler. Er arbeitete mit berühmten Kunstschaffenden zusammen, schuf unter anderem eine Plastik im Central Park New York oder wirkte am Vietnam-Memorial in Washington mit.

Vier Jungs

Lori Leutbecher blieb Hausfrau: Mit vier kleinen Buben hatte sie genug zu tun. Nach Burkhardt, der sich bald Burke nannte, folgten Peter, Frank und Martin – Jungs mit deutschen Namen, die sich aber auch hervorragend englisch aussprechen lassen … Burke arbeitet heute an der Börse. „Meinem Chef habe ich gesagt, ich möchte ein Büro gegenüber der Freiheitsstatue“, erzählt er – denn sie war es, die der Dreijährige damals gesehen hatte. Offenbar war er beruflich so erfolgreich, dass er sein Büro heute wirklich in exponierter Lage hat: an der Spitze von Manhattan, gegenüber der „Lady Liberty“. Seine Brüder wurden ebenfalls Geschäftsmann, Feuerwehrmann bzw. Elektriker für Kühlschränke.

Burke kehrte mit seinen Eltern und seiner Tochter jetzt für sechs Tage zum ersten Mal an den Ort zurück, der für sein Leben eine wahrscheinlich große Wende brachte. Zwar war er auch 1979 schon einmal in Deutschland, erzählt er, durfte damals freilich nicht ins Grenzgebiet. Die Stelle im 1989 wiedervereinigten Deutschland zu sehen, wo vor 57 Jahren der Kinderwagen mit dem kleinen Jungen über den Stacheldraht gehoben wurde – das war für ihn etwas ganz Besonderes. Seiner Tochter Jessica, 26 Jahre alt, zeigte er erstmals Deutschland. Die Familie wurde von der Verwandtschaft herzlich aufgenommen – jeder wollte sich mit ihnen treffen; so vieles wollten die 80-jährige Lori und der 84-jährige Stanley sich hier in der Rhön wieder einmal ansehen.

Kochkäse

Ihr Deutsch ist immer noch perfekt, auch wenn Lori Spring beim schnellen Erzählen ein paar amerikanische Brocken darunter mischt. „Die Sprache zu lernen ist mir sehr schwer gefallen“, bekennt sie. Und was hält ihre Enkelin Jessica von Deutschland? Zunächst erst einmal hält sie alles per Kamera fest: den ehemaligen Grenzweg, die Kirche von Melpers, die Verwandten. Und sie liebt die Rhön, wo ihr Vater seine Wurzeln hat und die sie schon bald wieder verlassen:„Die frische Luft, die vielen Bäume, keine Hochhäuser wie in New York.“ Ihre ganz spezielle Liebe hat sie auch zu deutschem Essen entdeckt. Wer allerdings meint, die Rhöner Hütes hätten es ihr angetan, der irrt: „Kochkäse!“ Aber das ist ja wohl nicht das Verrückteste an dieser Geschichte einer Familie, die von Melpers auszog, um New York zu erobern … Iris Friedrich