Die AOK Baden-Württemberg erklärt dazu: „Ein Lieferengpass bedeutet nicht automatisch einen Versorgungsengpass. In vielen Fällen gelingt es durch Austauschpräparate, pharmazeutische Beratung und die Zusammenarbeit aller Beteiligten im Versorgungssystem, die Behandlung der Versicherten ohne Unterbrechung sicherzustellen.“
Viele Betroffene, behandelnde Psychiater und Apotheken schätzen die Lage anders ein. Eine gute Zusammenarbeit im Versorgungssystem, vor allem zwischen Apotheken, sieht Eva Kolwe vom ZfP nicht: „Vom Gesetzgeber sind klinische und private Apotheken getrennt. Wir können uns bei einem Engpass zum Beispiel nicht untereinander aushelfen. Darin liegt ein großes Problem.“
Die Produkte kommen aus Ostasien
Auf Ausweichmedikamente im Ausland zurückzugreifen, war in der Vergangenheit eine Möglichkeit. Die strittige Frage, ob diese von den Krankenkassen übernommen werden, ist das eine Problem. Das andere: „Der Lieferengpass tritt global auf und ist nicht auf den deutschen Arzneimittelmarkt begrenzt“, schreibt die AOK. Die Apothekerin Kolwe erklärt die Hintergründe: „Die gesamte Herstellung der Arzneimittel, vom Wirkstoff bis zum fertigen Präparat, passiert ganz häufig in Ostasien.“ Insbesondere China und Indien seien hier die Haupthersteller. „Deutschland ist schon lange nicht mehr die Apotheke der Welt“, sagt Kolwe.
Zu Engpässen kann durch die Globalisierung mittlerweile schon ein verunglücktes Containerschiff führen. Speziell im Fall Quetiapin Retard ist der Grund für den Lieferengpass eine erhöhte Nachfrage, durch hohe Überverkäufe wurde die Lage noch verschlimmert. „In der ersten Firma gab es ein Problem bei der Herstellung. Das hat dann zu einem gewissen Dominoeffekt geführt”, erklärt Kolwe. Perspektivisch könnte sich ein Ende des Engpasses abzeichnen: „Gemäß den Meldungen der pharmazeutischen Unternehmen mit dem größten Marktanteil sollten erste Warenmengen demnächst zur Verfügung stehen“, schreibt das Bundesinstitut für Arzneimittel.
Sabine Jentscheck ist mittlerweile auf eine andere Medikation eingestellt. Gelungen ist ihr das nach einem „wochenlangen Kampf“. Eine Rückumstellung kommt für sie nicht mehr infrage: „Bei mir funktioniert es jetzt wieder mit dem Durchschlafen.“ Eine weitere Umstellung dauere Wochen und bedeute immer die Konfrontation mit den jeweiligen Nebenwirkungen. Auch bei Quetiapin Retard ist die Liste lang: Gewichtszunahme, Schwindel, Beeinträchtigung des Herzrhythmus, starke Müdigkeit, um nur ein paar zu nennen. „Es gibt eine große Menge an gemeldeten Nebenwirkungen, die bei unterschiedlichen Personen unterschiedlich stark ausfallen“, sagt Eva Kolwe.
Krise durch Lieferengpass
Sabine Jentscheck ist es gelungen, zur Normalität zurückzufinden. Sie arbeitet seit Kurzem als Genesungsbegleiterin in der Klinik am ZfP-Standort Biberach. Hier begleitet sie Menschen, die sich in einem Genesungsprozess nach einer psychischen Erkrankung befinden. Voraussetzung für die Stelle ist, dass man selbst mit einer psychischen Erkrankung lebt oder diese überwinden konnte. So wird ein besonderes Vertrauensverhältnis zu den akut Betroffenen geschaffen.
Die Arbeit gebe ihr zusätzliche Stabilität, sagt Sabine Jentscheck. Die Krise durch den Lieferengpass habe sie nur durchgestanden, weil sie sich über die Jahre ein Auffangnetz schuf. „Ich bin auch glücklicherweise hier am ZfP gut angebunden, außerdem hatte ich noch einen kleinen Vorrat zu Hause.“ Anderen Betroffenen gehe es aber nicht so: „Ich denke, für einen Patienten, der in einer ganz normalen Praxis behandelt wird, wo man wochenlang auf einen Termin warten muss, kann der Lieferengpass ein echtes Problem werden.“
Es muss mit weiteren Engpässen gerechnet werden
Auch wenn das Bundesinstitut, die AOK und Pharmaunternehmen betonen, dass der Engpass bald ein Ende haben dürfte, fordern Expertinnen wie Kolwe und Jäpel eine dauerhafte, strategische Lösung zur Vermeidung künftiger Lieferengpässe. „Es braucht eine Plattform, auf der diese Informationen besser zusammenlaufen“, sagt Kolwe.
Bettina Jäpel steht im Austausch mit ihren Kollegen. „Wir wollen als Psychiater eine Liste versorgungsrelevanter Medikamente erstellen, die gibt es für unser Fach bisher nicht. Wir müssen politisch mehr Druck aufbauen.“ Der Fokus solle dabei auch darauf liegen, die Arzneimittelproduktion wieder vermehrt nach Europa zu verlegen. Die Globalisierung habe Deutschland vom internationalen Markt abhängig gemacht, was mittlerweile ein Problem sei. „Ich beobachte mit Sorge die Spannung zwischen Pakistan und Indien“, sagt Eva Kolwe. Ein Krieg würde auch den Export von Medikamenten aus Indien hemmen. Dann müsse man mit weiteren Engpässen rechnen.