Leser-Aufruf Geschichten aufleben lassen: Passagier 195

Sarah Busch
  Foto: Adobestock

Von Thüringen aus in die Welt: Robert Macholdt wagte das Abenteuer auszuwandern. Gibt es in Ihrer Familie auch jemanden wie den Ilmenauer? Freies Wort sucht Ihre Geschichten.

 
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Ilmenau - Robert Macholdt befindet sich an der Wesermündung in Bremerhaven. Vor ihm liegt die Nordsee, hinter ihm erstreckt sich die etwa einen Kilometer lange Columbuskaje. Bahnhof am Meer wird der Kai bis heute von Einheimischen genannt. Robert Macholdt ist nicht allein. Er ist verheiratet und arbeitet als kaufmännischer Angestellter. Aber eigentlich wird sein Beruf als Handlungsgehilfe bezeichnet.

Der 35-Jährige wohnt in Ilmenau. Nun will der Südthüringer seine Heimat verlassen. Gemeinsam mit Helene Macholdt wird er auf ein Schiff der Reederei Norddeutsche Lloyd gehen.

Die Columbus, ein Personen- und Frachtdampfer, nach dem der Kai benannt ist, bringt ihn über den Atlantik nach Amerika. Macholdt reist als Passagier der dritten Klasse, sein Ziel ist St. Louis im US-Bundesstaat Missouri. Vielleicht will er dort eine neue Arbeit aufnehmen oder vielleicht reist er auch aus privaten Gründen. Seine Motive sind nicht bekannt. Es ist der 26. Januar 1928: Der Südthüringer steigt als Passagier 195 an Bord der Columbus. Er ist einer von mehr als fünf Millionen deutschen Auswanderern seiner Zeit.

Auswandererbewegung

Robert und Helene Macholdts Reisedaten stammen aus einem Auszug von Passagierlisten des Staatsarchivs Bremen. Diese lassen sich auch im „Deutschen Auswandererhaus“ einsehen. Benannt nach einer Herberge, erfahren Besucher in dem Erlebnismuseum die Geschichten und die Historie der 300-jährigen Auswandererbewerbung. Die Ausstellung zeigt die Anfänge der Passagierschifffahrt, dokumentiert die Flucht der Menschen vor Armut, Hunger, politischer Verfolgung und Krieg, aber auch die Hoffnungen der Auswanderer.

Der Namensgeber, das historische Auswandererhaus, dient von 1850 bis 1864 mehr als 300 000 Umsiedlern als erste Anlaufstelle auf ihrem Weg zu einem neuen Kontinent. Im 19. Jahrhundert wandern etwa 5,5 Millionen Menschen aus Deutschland aus. Häufig sind es Kaufleute, Kleinbauern, Mägde, Dienstboten, Handwerker oder Soldaten. Es zieht sie nach Brasilien, Argentinien und Australien. Die meisten, etwa 90 Prozent der Aussiedler, wählen die USA als neue Heimat. Ihre Fahrt in die neue Welt startet oft an einem Kai an der Weser und beträgt damals mit einem Segelschiff bis zu 45 Tage. Später, als Familie Macholdt reist, dauert die Überfahrt mit einem Dampfschiff von Bremerhaven nach New York je nach Witterung zwischen 8 und 19 Tagen.

Laut den Aufzeichnungen des Auswanderer-Vorfahren-Projekts bricht auch Karl Junghans am 22. September 1908 nach Ellis Island auf. Die Insel im Hudson vor New York City ist zumeist die erste Station für Einwanderer in die USA gewesen. Dort erfragten Mitarbeiter der Behörden die Reisegründe, kontrollierten Pässe und untersuchten die Passagiere. Manchmal warteten bis zu 5000 Menschen in der Registrierungshalle des Empfangsgebäudes. Etwa zwei Prozent der Umsiedler wurde die Einreise verweigert. Der 28-jährige Glasbläser aus Ilmenau darf den Kontrollpunkt passieren. Er gelangte mit der „Kronprinz Wilhelm“ an die Ostküste der Staaten.

Ureinwohner

Als erste Europäer kamen Briten, Niederländer und Spanier in die neue Welt. Die Masseneinwanderung verhieß für die Ureinwohner der Staaten allerdings nichts Gutes. Es ist eine der Schattenseiten der Immigrationsbewegung. Gleich, in welchen Ländern: Die Mehrzahl der Ureinwohner wurde vertrieben. Kleinbauern, auch aus Deutschland, übernahmen beispielsweise ihr Land. Ein Acker mit 0,4 Hektar Fläche kostete im 19. Jahrhundert 1,25 Dollar – was heute ungefähr einem Euro entspricht. Wer im Heimatland wenig Land besaß, konnte so nach wenigen Jahren eine Farm bewirtschaften. Eine Gruppe Krefelder gründete bereits 1683 mit Germantown in Pennsylvania die erste deutsche Siedlung in den Staaten.

In den 1960er-Jahren ebbt die Aussiedlerbewegung, die wie in Wellen über Europa verlief, allmählich ab. Einwanderungsbeschränkungen erschweren das Umsiedeln und Schiffe werden von Flugzeugen als Reisemittel abgelöst. Das letzte Auswandererschiff legt 1974 vom Kai in Bremerhaven ab. Ungefähr acht Millionen Menschen haben sich bis dahin für neue Heimat entschieden. Manchen blieb aber auch keine Wahl. Sie flohen vor politischer Verfolgung oder wurden zwangsausgesiedelt. Von den freiwilligen Auswanderern suchten die meisten von ihnen eine neue Arbeitsstelle.

Ob Karl Junghans und Familie Macholdt das fanden, weshalb sie sich auf die Reise begaben oder ob ihre Angehörigen noch in Ilmenau leben, ist bislang nicht bekannt. Was aber feststeht ist, dass Robert und Helene Macholdt mehr als eine Transatlantik-Schiffreise unternommen haben. Gemeinsam mit Helene reist der Südthüringer am 2. September 1933 erneut von Bremerhaven nach St. Louis. Wieder wird er an der Columbuskaje abgefertigt. Dieses Mal bringt ihn der Dampfer „Europa“ über den Atlantischen Ozean. Nun ist er Passagier 269.

Ihre Geschichten

Haben Sie, liebe Leserinnen und Leser, auch Auswanderer in Ihrer Familie? Wagten, vielleicht nur für ein paar Jahre, Ihre (Ur-)Großeltern ebenfalls einen Neuanfang in einem fernen Land? Sind Ihre Familienangehörigen nach Deutschland eingewandert? Oder planen Sie, trotz Corona-Pandemie, auszuwandern? Dann öffnen Sie Ihr persönliches Geschichtsbuch, Ihre Fotoalben und schicken Sie uns eine Nachricht. Lassen Sie uns an diesen Erlebnissen teilhaben – an den Geschichten, die sich dahinter verbergen.

Schreiben Sie an: Lokalredaktion Freies Wort, 98693 Ilmenau, Straße des Friedens 1, E-Mail: lokal.ilm-kreis@freies-wort.de oder melden Sie sich unter der Telefonnummer (03677) 67 72 20.

Handels- und Passagierschifffahrt Norddeutsche Lloyd

•Die Reederei Norddeutsche Lloyd wurde am 20. Februar 1857 von Hermann Heinrich Meier und Eduard Crüsemann gegründet. Das Handelsschiff-Unternehmen für Waren und Personen wurde zu einer weltweit bekannten Transatlantik-Reederei. 1970 wurde der Konzern durch eine Fusion zu Hapag-Lloyd.

•Das erste Seeschiff der Reederei, die „Adler“, wurde noch im Gründungsjahr für den Passagierdienst zwischen Bremerhaven und England eingesetzt. Bereits ein Jahr darauf steuerte der Dampfer „Bremen“ regelmäßig New York an. Später folgten Überfahrten im Linienbetrieb nach Baltimore und New Orleans.

•1901 lief die Kronprinz Wilhelm unter der Flagge der Reederei vom Stapel. Der Schnelldampfer für etwa 1800 Passagiere erreichte 23 Knoten, was einer Geschwindigkeit von 44 Kilometern pro Stunde entspricht. Ihm wurde zudem das Blaue Band verliehen. Diese Auszeichnung erhielt das auf der Transatlantikroute zu seiner Zeit schnellste Passagierschiff.

•1914 ließ die Reederei in der Werft Danzig zwei weitere Transatlantik-Dampfer bauen: die Columbus und die Hindenburg. Die Columbus war etwa 25 Meter breit und 230 Meter lang. Besetzt mit einer Mannschaft von 730 Personen, fuhr das Schiff mit 19 Knoten. Mehr als 1900 Passagiere fanden an Bord Platz.

Columbuskaje

•Laut Deutscher Auswanderer-Datenbank verlassen von 1820 bis 1897 etwa 4 700 000 Menschen Europa. Für die Meisten beginnt ihr neuer Lebensabschnitt an einem Kai in Bremerhaven.

•1863 entstand zwischen der Hansestadt und New York ein Linienschiffverkehr. Die transatlantische Verbindung wurde die meistbefahrene Route nach Übersee.

•Auch Rockstar Elvis Presley stieg als Soldat der amerikanischen Armee am 1. Oktober 1958 an der Columbuskaje von Bord der USS Randall.

•Bis heute befindet sich dort ein Kreuzfahrt-Terminal. Luxusliner steuern nun häufig Fjorde im Norden an. 2019 wurden etwa 250 000 Passagiere abgefertigt.

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